Diabetes-Forum-Chefredakteur Dr. Bernd Liesenfeld stellt in seinem Editorial verschiedene Initiativen und Strategien zur Prävention des Diabetes und seiner Begleiterkrankungen vor - angefangen bei Sport und Ernährung.

Der Begriff ist ein wahrer Zungenbrecher: partizipative Entscheidungsfindung. Manche sagen auch einfach PEF. Und doch bemühen sich Meinungsbildner in der Diabetologie landauf landab neuerdings um eine flüssige Aussprache der PEF, auch wenn es schwer fällt. Dabei soll uns diese sperrige Umschreibung doch einer besseren Form der Zusammenarbeit mit unseren Patienten und damit den entscheidenden Schritt nach vorne bringen. Denn wir stecken alltäglich im immergleichen Dilemma der sprechenden Medizin: was kann, was will, was sollte der Mensch mit Diabetes tun, um seine Gesundheit langfristig zu erhalten? Die PEF versucht all dies ohne Übergriffe auf die Autonomie des Patienten zu klären.

Weitgehend unbemerkt hat es die PEF auch 2021 in die 2. Auflage der Nationalen Versorgungsleitlinien geschafft und somit starken Empfehlungscharakter. Sogar die Amerikanische Diabetes Gesellschaft nahm 2022 PEF in ihre Behandlungsstandards auf.

Psychologen rechnen uns vor, dass 50% (!) des Versagens einer Therapie dem Behandler, 30% der Praxisorganisation und nur 20% dem Patienten zuzuschreiben sind. Mir ist zwar schleierhaft, wie man das überhaupt berechnen kann, aber es ist eine Zuweisung von Verantwortung, die zumindest diskutiert werden darf. Vielleicht nehmen sich Kolleg:innen dies aber so sehr zu Herzen, dass die Burn-Out-Raten in der deutschen Ärzteschaft mittlerweile bei zwanzig Prozent vermutet werden. Hingegen werden die 20% Verantwortung des Patienten immer öfter der Nahrungsmittelindustrie zugeschoben, die die Menschen nicht ausreichend über ihre schädlichen Produkte informiere. Der freie Wille des Individuums kommt da kaum mehr vor.

Doch wie sieht es denn mit dem Anteil Verantwortung des Patienten bei Therapieversagen aus? Der Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes wird allgemein dahingehend interpretiert, dass jeder Mensch das Recht auf Krankheit hat. Auch die Boutiquebesitzerin darf trotz Mal perforans ihre Pumps tragen, ebenso wie der Raucher seine Sucht ohne Einschränkung praktizieren darf.

Demgegenüber fordert das §6 des Sozialgesetzbuch XI vom Versicherten eine "gesundheitsbewusste Lebensführung" durch "frühzeitige Beteiligung an Vorsorgemaßnahmen" und "aktive Mitwirkung an (der) Krankenbehandlung".

In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns täglich und fordern von unseren Patienten ihren Anteil der Verantwortung ein. Viele Menschen mit Diabetes sind froh über unsere Angebote, manche reagieren ablehnend, andere schalten auf Durchzug oder vermeiden, uns zu enttäuschen und wiederum andere kommen erst gar nicht mehr oder nur sporadisch.

Unsere Therapiekonzepte werden ganz sicherlich nicht für jeden umsetzbar oder akzeptabel sein, aber es scheint, dass das von uns bislang verlangte Maß an Kooperation mit PEF an sein Ende kommt. Doch auch hier wird uns die so oft gescholtene Industrie mal wieder aus der Patsche helfen. Der Anfang ist bereits gemacht. Mit der wöchentlichen Wunderspritze zur Gewichtsabnahme in der nicht mehr so fernen Zukunft dieses Jahres wird sie uns von den schweißtreibenden Gesprächen über Ernährung und Bewegung im Alltag, den Hund für den Spaziergang und das Achtsamkeitsseminar für die Seele befreien und uns endlich Zeit zum entspannten Zurücklehnen geben. Das Praxisgespräch werden wir mit einem sonoren: "Was kann ich heute für Sie tun, Frau Meyer?" einleiten, wohlwissend, dass Frau Meyer bereits ihren Blick auf den Hochglanzflyer für das sündhaft teure Präparat geheftet hat, welches neuerdings auch von ihrer Kasse übernommen wird. Die PEF könnte schneller und einvernehmlicher gar nicht von statten gehen.

Auch der juvenile Mensch mit Diabetes in der Adoleszentenkrise wird von der auf der ATTD 2023 vorgestellten Full-Closed-Loop-Lösung "Liberty" (!) des amerikanischen CGM-Marktführers begeistert sein, denn das quälende Rechnen mit BEs, die immerwährende Anpassung der BE-Faktoren und Zielwerte und das schlechte Gewissen vor dem Praxistermin haben schlagartig ein Ende. PEF "at it‘s best".

Bleibt nur noch zu klären, natürlich auf dem Weg der partizipativen Entscheidung, diesmal unter wohlwollender Berücksichtigung aller gesellschaftlichen Gruppen: wer kann, wer will und wer sollte das alles finanzieren? Denn die Marktteilnehmer müssen ja über die Kosten der Freiheit ein Einvernehmen herstellen. Oder kehren wir dann doch wieder zu der bekannten paternalistischen Form der Patientenführung zurück: "Frau Meyer, für unsere Zusammenarbeit ist es mir wichtig, dass Sie ein Blutzuckertagesprofil anfertigen und sich monatlich auf die Waage stellen. Da sind wir uns doch einig, oder ?"

Autor:
Dr. Bernd Liesenfeld
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie, Diabetologie, Angiologie
Oberarzt
Abteilung Innere Medizin II


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (5) Seite 5