Vom 2. bis zum 6. Oktober fand die 59. Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) in Hamburg statt. 11 395 Interessierte aus 125 Ländern nahmen live beziehungsweise online teil. Online-Teilnehmer konnten auch direkt Fragenstellen. Diese Kombination zwischen Web-Meeting und Präsenzkonferenz gelang wieder technisch perfekt.

Aus den 1007 freien Vorträgen und zahlreichen Symposien eine Auswahl für einen Kongressbericht zu treffen, ist schwierig. Sie sollten auch selbst unter www.easd.org Vorträge anhören, sie sind seit Anfang November gratis online verfügbar.

Spannendes Programm

Das Programmkomitee stand unter Leitung von Frau Prof. Tina Vilsbøll aus Kopenhagen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Gesellschaft besetzen zwei Frauen die wichtigsten Ämter der EASD, denn auch die Präsidentin ist jetzt eine Frau: Prof. Chantal Mathieu aus Leuven in Belgien. Wie immer wurden die Präsentationen anhand anonym bewerteter Bewerbungen ausgewählt. Eingereicht waren 1430 Abstracts, davon wurden 1007 angenommen. Die meisten Erstautoren kamen aus Dänemark (109), gefolgt vom Vereinigten Königreich (107), Deutschland (88), USA 82, China (73), Spanien (41), den Niederlanden (40) und Frankreich (37).

Claude-Bernard-Preis an Prof. Åke Lernmark

Die höchste Auszeichnung der EASD, den von Sanofi unterstützen Claude Bernard Preis, erhielt Prof. Åke Lernmark. Er forscht seit Jahrzehnten in Schweden und den USA nach den Ursachen des Typ-1-Diabetes. Berühmt wurde er schon 1978 mit der Entdeckung der Antikörper gegen die Oberfläche von Inselzellen. Lernmark ist einer der führenden Forscher der TEDDY Studie, in der zwischen 2004 und 2010 fast 60 000 Neugeborene auf ein erhöhtes erbliches Risiko für Autoimmundiabetes (Typ 1) untersucht wurden. 2525 Kinder mit erhöhtem Risiko werden ab dem Alter von drei Monaten bis zum Alter von 15 Jahren

beobachtet. 10 % der Kinder entwickelten Autoantikörper. Man fand, dass sich zwei Gruppen unterscheiden lassen, in denen zwei verschiedene Autoantikörper als Erste auftreten (IAA und GADA). Neuste Ergebnisse zeigen, dass der Krankheitsprozess bei Typ-1-Diabetes schon im Säuglingsalter beginnt und dass Virusinfektionen dabei eine Rolle spielen. Wenn Babys mit erhöhtem Risiko im Alter von 3-12 Monaten eine Magen-Darm Infektion hatten, kam es Jahre später häufiger zum Auftreten von Antikörpern, als wenn diese Infektionen im Alter von 13-24 Monaten abgelaufen waren. Lernmark meint, dass im Säuglingsalter bei genetische gestörtem Immunsystem Virusinfektionen ungenügend abgewehrt werden können, chronisch werden und dann den Immunprozess gegen die Inselzellen auflösen.

Zwei Mittel gegen Enteroviren wirken bei Typ-1-Diabetes

Frau Dr. Maria Mynarek aus Norwegen stellte eine in vier Ländern durchgeführte Studie vor, die zeitgleich in der berühmten Zeitschrift Nature Medicine veröffentlicht wurde. Kindern mit Typ-1-Diabetes wurde bald nach der Diagnose für 26 Wochen entweder die Kombination zweier Mittel gegen Enteroviren gegeben oder sie erhielten ein Scheinmedikament. Erstaunlicherweise beobachtete man, dass nach 12 Monaten bei den mit den Antivirusmitteln Behandelten häufiger eine nennenswerte Insulinsekretion erhalten war. Die beiden benutzen Virusmittel sind nicht im Handel und die Wirkung war auch nicht sehr erheblich, aber die Ergebnisse lassen vermuten, dass in den Inseln eine chronische Infektion mit Enteroviren abläuft. Vielleicht muss man mit der Anti-Virus-Behandlung noch früher beginnen, meinte Fr. Dr. Mynarek in der Diskussion.

Dafür spricht auch eine jüngst veröffentlichte Studie aus Norwegen, auf die Fr. Dr. Myranek hinwies. Bei sechs Fällen von frühem Typ-1-Diabetes fanden sich in den Langerhans‘schen Inseln aus Pankreasbiopsien in allen Fällen mehrere Anzeichen einer Infektion mit Enteroviren, in Kontrollen aus Bauchspeicheldrüsen von Menschen ohne Diabetes fand sich das nicht. So eine Untersuchung hatte es bisher nie gegeben, dafür musste Kindern operativ Pankreasgewebe entnommen werden.

Forschung über Inkretinanaloga

Sie gehören zu den "Nutrient stimulated Hormons": die im Darm durch Nahrungsaufnahme freigesetzten Hormone wie GLP-1 und GIP. Sie wirken auch im Gehirn und melden dort, dass man nicht mehr hungrig sein sollte. Kein Wunder also, dass über längere Zeit wirkende Analoga dieser Hormone zur Gewichtsabnahme führen. Das GLP-1-Analogon Semaglutid ist bereits verfügbar und für die Behandlung des Diabetes und der Adipositas zugelassen. Es ist gesichert, dass durch eine erhebliche Gewichtsabnahme mit diesem Mittel z. B. bei Menschen mit Diabetes und hohem Risiko für Herz- Kreislauf-Erkrankungen sehr günstige Ergebnisse zu erreichen sind.

Aber die Forschung ging weiter, Tirazepid wirkt nicht nur am GLP-1-Rezeptor, sondern auch am GIP-Rezeptor. Damit nicht genug, es folgt auch noch das "Triple" mit Wirkung auf GLP-1, GIP und Glukagonrezeptoren. Viele weitere Wirkstoffe sind bei zahlreichen Firmen in Entwicklung.

Viele Preise gingen nach Deutschland

Wieder gingen mehrere Auszeichnungen der EASD nach Deutschland. Prof. Stefan Herzig vom Helmholtz Zentrum in München wurde mit dem von Novo-Nordisk unterstützten Camillo Golgi Preis ausgezeichnet, der besondere Leistung bei der Erforschung der Folgeschäden des Diabetes würdigt. Dr. Theresia Sarabhai vom Deutschen Diabetes Zentrum in Düsseldorf erhielt einen der ebenfalls von Novo Nordisk gestifteten Rising Star Auszeichnungen, der ihre weiteren Arbeiten darüber fördern wird, wie sich die Zufuhr verschiedener Fette auf den Stoffwechsel auswirken.

Den von Eli Lilly geförderten Minkowski Preis erhielt Priv. Doz. Dr. Timo Müller aus München, Leiter der Abteilung für molekulare Pharmakologie am Institut für Diabetes und Adipositas am Helmholtz Zentrum in München. Er wurde für seine Arbeiten über das gastrointestinale Hormon GIP ausgezeichnet. Nachdem Prof. Werner Creutzfeldt in Göttingen Ende der 70iger Jahre erste Arbeiten über GIP veröffentlicht hatte, interessierte man sich kaum für die Darmhormone.

Der große Erfolg der GLP-1 Rezeptor-Agonisten bei der Gewichtsabnahme hat diese Forschung nun ganz in den Vordergrund gerückt. Das in Deutschland bereits zugelassene Tirzepatid imitiert nicht nur die Wirkung von GLP-1, sondern auch die des GIP. Timo Müller konnte viele interessante Fragen dazu beantworten und klären. Auch GIP wirkt im Gehirn, aber die Wirkung läuft über einen anderen Weg ab als bei GLP-1. Deshalb meint Timo Müller, dass es durchaus Sinn macht, beide Rezeptoren zu stimulieren.

Retatrutid – dreifach hält besser?!

Frau Prof. Ania Jastreboff, die im Jahr zuvor die Gewichtsabnahme durch Tirzepatid vorgestellt hatte, zeigte jetzt die Ergebnisse mit Retatrutid an Menschen mit Adipositas. Dieses noch nicht auf dem Markt befindliche Mittel ist ein dreifacher Agonist, es wirkt auf die Rezeptoren von GLP-1 und GIP und auch noch auf die für Glukagon. Die Gewichtsabnahme scheint noch deutlicher zu sein als mit den bisherigen Mitteln. Anfangs wogen die Teilnehmer der Studie noch 107,7 kg, nach 48 Wochen hatten sie im Mittel 26 kg abgenommen, so etwas hat bisher noch kein Medikament zum Abnehmen erreicht. Wie üblich bei dieser Medikamentengruppe kam es zu Nebenwirkungen seitens des Magen-Darm-Trakts, die aber selten auftraten. Eine "Nebenwirkung" ist aber bei dieser Medikation sicher: Nach der Behandlung wird eine koplett neue Garderobe nötig.

Die verschiedenen Operationen zur Behandlung der Adipositas haben jetzt ernsthaft Konkurrenz bekommen. Die neuen Medikamente führen zu einer den Operationen vergleichbaren Gewichtsabnahme. Allerdings fehlen noch Langzeitbeobachtungen. Die vielen Studien, die mit dem Ziel der Zulassung durchgeführt werden, reichen bisher meist nur über bis zu 4 Jahre. Was nach vielen Jahren passiert, müssen länger dauernde Studien zeigen.

Das Aus für Magenoperationen bei Adipositas?

Prof. Jens Holst aus Kopenhagen stellte kritische Fragen. Er hält es noch nicht für gesichert, dass die zusätzliche Stimulation der GIP-Rezeptoren viel mehr bringt und möchte Studien sehen, die direkt verschiedene Mittel miteinander vergleichen. Er sieht noch viele Fragen: Was tun, wenn man mit der Behandlung aufhört, weil kein Kostenträger das Mittel bezahlt? Sollte man mit niedrigerer Dosis weitermachen? Holst warf auch eine bisher kaum gestellte Frage auf. Man nimmt mit den Inkretinanaloga ab, weil man den Appetit verliert. Man verliert aber auch die Freude am Essen, die Freude daran, ein üppiges, leckeres Mahl zu genießen. Holst fragt sich, wie lange Menschen bereits sind, das auszuhalten.

Sechs Millionen Kronen für Closed-Loop Forschung

Die Novo Nordisk Foundation finanziert den "Diabetes Prize for Excellence". Mit sechs Millionen dänischen Kronen (über 800 000 Euro) werden die Forschungsarbeiten von Prof. Roman Howorka in Cambridge gefördert. Erstmals in der Geschichte der EASD wurde jemand geehrt, der Mathematik und Informatik studiert hat – an der traditionsreichen Karls Universität in Prag, der ältesten Universität Mitteleuropas, die Kaiser Karl IV 1348 gründete. Prof. Howorka leitet in Cambridge ein Institut, das sich mit Closed-Loop Insulinpumpen beschäftigt. Es gibt bereits viele kontrollierte Studien mit solchen Geräten und Erfahrungen mit Tausenden von Patienten. Der große Vorteil ist die automatische Gabe des basalen Insulinbedarfs. Die Insulingabe vor den Mahlzeiten muss weiterhin entsprechend der geplanten Mahlzeit eingegeben werden. Besonders in der Nacht kommt es deutlich seltener zu Hypoglykämien - eine große Entlastung für die Betroffenen. Die auf dem EASD-Meeting vorgestellte AIDAPT Studie benutzte das von Howorka entwickelte und erreichte eine hervorragende Diabeteseinstellung in der Schwangerschaft. Howorka zeigte auch, wie häufig sich nicht nur der Insulinbedarf zum Essen, sondern auch der basale Insulinbedarf tagtäglich je nach Lebensumständen ändert.

Eine Spritze Basalinsulin für die ganze Woche?

Mit Icodec, einem von Novo-Nordisk entwickelten "Wocheninsulin", wurden jetzt Studien an Menschen mit Typ 1 und Typ-2-Diabetes vorgestellt. Bei Typ-1-Diabetes wurde die Gabe von täglichem Verzögerungsinsulin (Degludec) mit nur einer Injektion Icodec pro Woche verglichen. Vor den Mahlzeiten wurde bedarfsgerecht rasch wirkendes Insulin gespritzt. Nach 26 und 75 Wochen wurden HbA1c und die Häufigkeit und Schwere von Hypoglykämien erfasst. Bei den mit Icodec Behandelten kaum es doppelt so häufig zu schweren Hypoglykämien und auch die Zahl der Hypoglykämien ohne Bewusstseins-Verlust war fast doppelt so hoch. Kein Wunder, denn bei erheblicher körperlicher Bewegung wie einer Tageswanderung kann man das Verzögerungsinsulin natürlich nicht vermindern. Ich persönlich sehe für solche Wocheninsuline keine Zukunft in der Behandlung des Typ-1-Diabetes, sie bieten weniger Möglichkeiten der Selbstanpassung der Behandlung, auf die "empowerte" Menschen mit Diabetes heute nicht mehr verzichten wollen.

Wocheninsulin bei Typ-2-Diabetes?

Aus Dalles in Texas kam Prof. Ildico Lingvay, um die Ergebnisse der Behandlung von Menschen in einem frühen Stadium des Typ-2-Diabetes mit dem "Wocheninsulin" Icodec vorzustellen. Icodec wurde mit der täglichen Injektion von Degludec verglichen. 588 nahmen über 26 Wochen teil, die Hälfte bekam Icodec, beginnend mit 70 Einheiten, die Anderen bekamen Degludec, beginnend mit 10 E. Die Studie wurde doppel-blind durchgeführt, auch die mit Icodec Behandelten spritzten zusätzlich einmal am Tag eine Lösung ohne Insulin und die übrigen erhielten eine "Wochenspritze", in der kein Insulin war. Nach 24 Wochen lag das HbA1c unter Gabe des Wocheninsulins um 0,2 % niedriger (7,2/7,0 %). Aber die Häufigkeit von Hypoglykämien war in der Wocheninsulingruppe signifikant höher, wenn auch, wie bei diesem frühen Stadium des Typ-2-Diabetes zu erwarten, sehr selten (50 gegen 17 Fälle klinisch relevanter Hypoglykämien). Sind 52 statt 365 Injektionen im Jahr ein relevanter Vorteil für die Betroffenen? Ist es wirklich wünschenswert, dass der Pflegedienst zum Insulinspritzen nur einmal pro Woche kommen muss? Oder besteht die Gefahr, dass bei versehentlicher Überdosierung sehr lang dauernde schwere Unterzuckerungen auftreten?

Was bringt vegane Kost bei Typ-1-Diabetes?

Dr. Hana Kahleova aus Washington verglich bei Typ-1-Diabetes eine vegane Kost mit einer üblichen Kost über 13 Wochen. Unter veganer Kost wurden deutlich mehr Kohlenhydrate gegessen und deutlich weniger Fett und Eiweiß konsumiert. Unter veganer Kost sanken die Cholesterinwerte, die Insulindosis war geringer und die Insulinwirkung gesteigert. Die Blutzuckerwerte blieben allerdings gleich. Frau Kahleova trug die Ergebnisse mit großem Enthusiasmus vor. Sie ist für das Physicians Committee for Responsible Medicine in Washington DC tätig, einer Organisation, die sich vehement für vegane Kost und gegen Tierversuche einsetzt.

Mehr oder weniger Kohlenhydrate?

Die Frage, ob es bei Typ-1-Diabetes besser ist, mehr oder weniger kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel zu essen, untersuchte Sofia Sterner Isaksson in Göteborg. 54 Menschen mit Typ-1-Diabetes aßen über 4 Wochen 30 % oder 50 % der Kalorienaufnahme in Form von Kohlenhydraten. Danach aßen sie 4 Wochen, was sie wollten und danach 4 Wochen lang die Kost der jeweils anderen Gruppe, also eine "cross-over" Studie mit "washout". Unter Diät mit 30 % Kohlenhydraten lag die mittlere Blutglukose bei 8,6 mmol/L, unter 50 % Kohlenhydraten bei 9,2 mmol/L, ein signifikanter Unterschied von 11 mg/dl zwischen den Diäten. Die Auswertung der Glukosesensoren zeigte eine um 4,5 % bessere "Time in Range2 bei der kohlenhydratärmeren Kost.

Normalwert des HbA1c wegen der Menstruation niedriger?

Durch die Menstruation ist die Lebensdauer der Erythrozyten kürzer, durchaus denkbar, dass dadurch die HbA1c Werte niedriger liegen. Dr. Mike Stadman aus Manchester zeigte eine Auswertung von über 1 Million HbA1c Werten. Die Werte von Frauen unter dem 50. Lebensjahr lagen etwas niedriger als die der Männer. Möglicherweise haben sie einen um 1,6 mmol/L niedrigeren Normalwert für das HbA1c. Der Normalwert könnte für Frauen vor der Menopause vielleicht bei 6,4 (64,4 mmol) und nicht 6,5 % (48 mmol) liegen, meint Dr. Stadman. Erstaunlich, dass sich für diese Frage bisher noch niemand interessiert hat.

En 2024 se celebrará en Madrid

Hoffentlich herrscht wieder Frieden in der Ukraine, wenn nächstes Jahr vom 9. bis zum 13. September das 60. EASD Annual Meeting in Madrid stattfindet. Erschütternd war der Vortrag von Prof Mankowski aus Kiew, der über die Probleme mit der Diabetesversorgung im Ukrainekrieg berichtete. Er zeigte bewegende Bilder, zum Beispiel von den völlig überfüllten Räumen in Hospitälern, denn dort müssen wegen der häufigen Luftangriffe auch viele Angestellte die Nächte verbringen.

Übrigens gibt es bei der EASD eine (etwas) geringere Teilnahmegebühr für Diabetesberater:innen und auch einen verminderten Mitgliedsbeitrag. Aber auch ohne zu zahlen, kann man die Präsentationen des Meetings ansehen, meist sind sie schon Anfang November gratis verfügbar unter www.easd.org – schau‘n Sie mal rein!


Autor:
Dr. med. Viktor Jörgens
Executive Director EASD/EFSD 1988-2015
Tel.: 01 60/8 87 74 01


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (11) Seite 36-39