Welchen Stellenwert hat der Einsatz von Diabetes-Technologie in der Klinik? Wir haben mit Professor Susanne Reger-Tan und Dr. Thomas Werner gesprochen.

Sie haben zusammen mit anderen im Krankenhaus tätigen Kollegen im Sommer einen Diskussionsbeitrag mit dem Titel "Diabetes-Technologie und Digitalisierung in der stationären Diabetologie - Time to Act!" veröffentlicht. Warum? Gibt es im stationären Bereich ein Problem damit?

Thomas Werner: Ich denke schon. Wir befinden uns gerade mitten in einem technologischen Umbruch. Die elektronische Krankenakte wird in den Kliniken bald Standard sein. Damit können dann Gesundheitsdaten viel umfassender und schneller verarbeitet werden. Das sollte man nutzen. Gerade in der Diabetologie. Die vielen Daten der gemessenen BZ-Werte bieten sich ja geradezu an, sie digital zu verarbeiten. Es gibt bereits KI-basierte Unterstützungssysteme bei der Dosisfindung von Insulin, Smart Pens... In den Krankenhäusern werden immer mehr Patienten mit Insulinpumpensystemen und CGM- Geräten auftauchen. Auch auf der Chirurgie. Damit müssen die Kollegen dann umgehen können. Die Betroffenen werden ihre Devices ja nicht an der Eingangstür der Krankenhäuser ablegen.

Susanne Reger-Tan: Genau. Wir möchten mit dem Artikel auf zwei Dinge aufmerksam machen: 1. Digitaler Fortschritt darf nicht an der Krankenhausschwelle enden und Menschen mit Diabetes sollten auch im Krankenhaus an den Vorteilen digitaler Technologie teilhaben dürfen. 2. Der technische Fortschritt geht auch mit einer Zunahme der Komplexität des Diabetesmanagements einher und erfordert daher die Kompetenz diabetesversierter Teams, gerade bei Hauptdiagnose Diabetes und bspw. AID-Systemen.

Also geht es nur um die Patienten mit der Hauptdiagnose Diabetes?

Reger-Tan: Ganz und gar nicht. Diabetes betrifft viele Menschen. Die Zahl der Betroffenen wird in Zukunft weiter zunehmen. Das Thema Diabetesversorgung im stationären Bereich ist überaus relevant und erfährt leider nicht angemessener Aufmerksamkeit. Als Beispiel: Ein Mensch bedarf aus irgendeinem Grund einen stationären Aufenthalt und bringt im Gepäck die Diagnose Diabetes mit. Diese Nebendiagnose Diabetes liegt bei mindestens einem von vier Menschen vor, die sich in Krankenhausbehandlung begeben, und beeinflusst relevant den stationären Verlauf. Menschen mit Diabetes weisen einen zwei Tage längeren Aufenthalt und doppelt so hohes Risiko für Komplikationen wie postoperative Infektionen auf…

Werner: Derzeit liegt eine Unterversorgung von Menschen mit Diabetes im Krankenhaus vor. Unser Ziel sollte sein, alle Betroffenen durch spezialisierte Diabetesteams zu versorgen, von denen es zugegebenermaßen nicht ausreichend gibt. Wir müssten viele betroffene Menschen mit wenig Fachpersonal betreuen können.

Und dabei soll die Diabetestechnologie helfen?

Werner: Wie soll es sonst funktionieren? Wir sollten Technologie als Chance sehen!

Reger-Tan: Es gibt kaum ein Fachgebiet wie die Diabetologie, in der Gesundheitsversorgung derart von digitaler Technologie profitiert hat. Im ambulanten Setting ist sowohl für Menschen mit Diabetes als auch ihre Diabetesteams der Einsatz digitaler Technologie mittlerweile ein selbstverständlicher Bestandteil des Diabetesmanagements. Denken wir nur an die kontinuierliche Glukosemessung oder im Falle des Typ-1-Diabetes gar an AID-Systeme. Unsere Erfahrungen und Kompetenzen im Bereich digitaler Technologie systematisch in die stationäre Versorgung einzubringen, birgt das große Potential, flächendeckend viele Menschen mit wenig Fachpersonal zu betreuen und so ein Plus an Gesundheit für diese Menschen zu erreichen. Bis dies Versorgungsrealität ist, müssen wir noch einen kleinen Marathon hinter uns bringen und jetzt ist ein sehr guter Zeitpunkt, um loszulaufen.

Affiliation

Prof. Dr. med. Susanne Reger-Tan
Leiterin des Diabeteszentrums und der Ernährungsmedizin,
Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel, Universitätsklinik Essen,
diabetes@uk-essen.de, www.endokrinologie.de, www.ume.de.

Dr. med. Thomas Werner
Chefarzt Diabeteszentrum Bad Lauterberg,
sekretariat@diabeteszentrum.de, www.diabeteszentrum.de.

Wo liegen aktuell die Probleme bei der Nutzung von Diabetestechnologie im Krankenhaus?

Werner: Nehmen wir mal die Fachklinik, in der ich arbeite, als Beispiel. Wir behandeln sehr viele Menschen mit Typ 1 Diabetes als Hauptdiagnose. Diese nutzen zu einem großen Teil Insulinpumpensysteme. Und zwar alles, was der Markt hergibt. Das will ich jetzt nicht aufzählen. Aber denken Sie mal nur an die unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten: SUP, SUP-LGS, SIP, Hybrid AID, Advanced Hybrid AID. Alles mit unterschiedlichen Kombinationen von Pumpenmodellen und CGM-Geräten. Und dann dieser unglaublich schnelle technologische Fortschritt. Es gibt ständig etwas Neues. Sie können sich vorstellen, wie häufig sich unser Fachpersonal weiterbilden muss. Man braucht hochspezialisierte und motivierte Diabetesberater:innen und Ärzte. Zum Glück haben wir diese in unserem Haus. Das sieht in nicht spezialisierten Einrichtungen häufig ganz anders aus.

Also ist nur das Personal ein limitierender Faktor bei der Nutzung von Diabetestechnologie im Krankenhaus?

Werner: Das könnte man ja mit telemedizinischen Konsilen lösen. Spezialkliniken könnten weniger spezialisierte Häuser online beraten. Zumal es dort auch weniger häufig diese Patienten gibt. Technisch wäre solch ein Vorgehen sicher möglich. Leider fehlt dazu bisher die Infrastruktur. Ich sehe aber noch andere Problemfelder: Stichwort Nutzung von CGM-Daten im Krankenhaus. Sehr viele Menschen mit Diabetes nutzen Geräte zur Gewebezuckermessung. Dies betrifft insbesondere die Patienten, die nicht wegen ihrer Stoffwechselerkrankung in eine Klinik müssen, sondern andere akute Erkrankungen haben.

Wie nutzt man Diabetestechnologie an einem Maximalversorger?

Reger-Tan: Das ist ein heterogen gelöstes bis ungelöstes Thema. Generell unterscheiden wir, ob Menschen mit den eigenen Devices ins Krankenhaus kommen oder das Krankenhaus digitale Devices nutzt, um Menschen mit Diabetes zu betreuen. Darüber hinaus gibt es sicher auch unterschiedliche Herangehensweisen je nach Device (Sensor allein bis AID-System).

Wie sieht das im Detail aus?

Reger-Tan: Wenn wir nur diejenigen betrachten, die mit den eigenen Devices ins Krankenhaus kommen, ist die Umstellung von CGM auf kapilläre Blutzuckertagesprofile und von Insulinpumpentherapie auf ICT für die Patient:innen zunächst ein nicht verständlicher Rückschritt und bedeutet im übergeordneten Sinne eine Vorenthaltung an Teilhabe. Praktisch fragen wir uns so beispielsweise: Sollten oder dürfen Menschen mit Diabetes ihren Sensor im Krankenhaus behalten und weiter zur Dosisfindung nutzen? Dürfen wir als Krankenhauspersonal diese Werte verwenden und die von Sensoren erhobenen Werte bzw. die von einer Insulinpumpe applizierten Insulingaben oder gar von einem Algorithmus vorgegebene Insulindosisvorschläge auch perioperativ einsetzen? Menschen mit CGM-Sensoren behalten diese in der Regel bei. Solange die Patient:innen über die Insulintherapie selbst entscheiden und entscheiden können, erfolgt die Nutzung des Sensors innerhalb der Zulassung. Im optimalen Fall werden auch die AID-Systeme aktiv am Patienten belassen und in speziellen Settings hybrid kapillär Glukose gemessen. Die Herausforderung besteht darin, die Situationen zu definieren, in denen wir uns eben nicht auf die digitale Technologie verlassen können und aus Sicherheitsgründen auf bewährte Verfahren umstellen.

Gibt es Erfahrungen mit CGM im Krankenhaus?

Reger-Tan: Natürlich. Im Rahmen unseres SmartDiabetesCare-Projektes, einem digitalisierten Diabetesmanagement, bei dem unter anderem eben CGM-Sensoren systematisch eingesetzt wurden, haben wir sehr gute Erfahrungen mit der Betreuung von Menschen mit Nebendiagnose Diabetes gemacht. Die Patient:innen empfanden die Art des Glukosemonitorings komfortabler und sicherer, die Pflege erfuhr eine Arbeitsentlastung und war zufriedener. Wir als Diabetesteam konnten eine Vielzahl an Menschen auf unterschiedlichsten Stationen mit wenig Personal betreuen. Das war gerade zu Hochzeiten der COVID-19-Pandemie besonders wertvoll.

Zeigen CGM-Geräte in Notfallsituationen, z.B. auf der Intensivstation, überhaupt korrekte Werte an?

Reger-Tan: Es gibt leider noch zu wenig Daten zu diesem Thema und wir müssen mehr Erfahrungen sammeln. Sofern CT-Untersuchungen erforderlich sind, wären die postinterventionell erhobenen Glukose-Werte möglicherweise unzuverlässig und laut Herstellerangaben sind die Sensoren vor der Untersuchung zu entfernen und ein neuer Sensor nach der Untersuchung einzusetzen. Es gibt bekannte Interferenzen mit Substanzen, die in Notfallsituationen relevant sein können und die Sensorgenauigkeit beeinflussen, wie Paracetamol, Alkohol und Mannitol. Darüber hinaus gibt es Daten zur Präzision von CGM-Sensoren im Krankenhaus vorwiegend aus der Erfahrung auf der Intensivstation während der COVID-19 Pandemie. Die Genauigkeit der Sensoren war in kleinen Fallserien eingeschränkt bei Reanimation, Hypothermie, Lagerung auf dem Sensor und eingeschränkter Gewebeperfusion. Im Zweifelsfall ist eine hybride Herangehensweise (zusätzliche POC-Glukosemessung in definierten Zeitabständen oder Situationen) oder ein rein kapilläres/ arterielles Glukosemonitoring vorzuziehen.

Wie wird dieser Aufwand finanziert?

Werner: Das ist eine der entscheidenden Fragen! Bisher refinanziert sich die Nutzung von CGM im Krankenhaus nur über Studien. Man darf aber nicht nur die Sensoren oder die Technik zur Datenverarbeitung berücksichtigen. Auch die Kollegen, die erhobene Daten auswerten und darauf therapeutisch reagieren, müssen bezahlt werden. Dagegen steht aber ein Mehrwert dieser Maßnahmen. Studien zeigen, es gibt weniger schwere Komplikationen bei der stationären Behandlung. Das sollte es uns doch wert sein. Qualität gibt es nicht umsonst!

Was ist Ihre Einschätzung? Werden wir in naher Zukunft auch in Kliniken die neuen technischen Möglichkeiten in der Diabetologie nutzen?

Werner: Ich bin ja von Grund auf Optimist. Die Uringlukosemessung wurde ja auch von den teuren BZ-Messungen abgelöst. Der nächste technologische Schritt ist Realtime-Gewebezucker. Das wird sich nicht aufhalten lassen. Und der Personalmangel in den Klinken wird uns zur Nutzung technischer Unterstützungssysteme zwingen.

Reger-Tan: Ich kann mir ehrlicherweise das gegenteilige Szenario kaum vorstellen. Die Diabetologie hat im ambulanten Setting vorbildlich demonstriert, wie Patientenwohl durch den Einsatz digitaler Tools gefördert werden kann. Auch die stationär tätigen Diabetesteams sind für Diabetestechnologie überaus aufgeschlossen; der Transfer ins Krankenaus wird sicher gelingen.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Reger-Tan und Herr Werner.


Literatur:
https://www.thieme-connect.com/ products/ejournals/html/10.1055/ a-2060-2059

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (1/2) Seite 38-41