Derzeit kommen sehr viele Menschen, die vor Krieg, Terror und Elend fliehen, in Deutschland an; darunter sind auch Tausende Diabetiker. Anhand eines Fallbeispiels beschreibt Dr. Martin Lederle die Herausforderungen, die dadurch auch auf Behandler zukommen können.

Niemand in Deutschland kann derzeit sagen, wie viele Menschen in diesem Jahr nach Deutschland flüchten werden: Werden es "nur" eine Million sein, oder wie von manchen befürchtet 1,5 Millionen oder vielleicht doch noch mehr? Unter diesen Flüchtlingen sind natürlich auch Patienten mit Diabetes mellitus.

Wie viele Diabetiker sind unter den Geflüchteten

Wenn man zur Abschätzung hilfsweise die Daten aus der DEGS1-Erhebung vom Robert-Koch-Institut aus dem Jahr 2013 zu Rate zieht, liegt die Prävalenz für Diabetes mellitus in der Altersgruppe von 18 bis 49 Jahren in der Größenordnung von 2,3 bis 3,2 Prozent. Wenn man von 1,5 Millionen Flüchtlingen ausgeht, sind darunter also etwa 42.000 Patienten mit Diabetes mellitus; viele von ihnen werden einen Diabetes mellitus Typ 1 haben.

Nach dem Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2015, herausgegeben von diabetesDE Deutsche Diabetes Hilfe und DDG, gibt es in Deutschland derzeit etwa 1.100 Diabetes-Schwerpunktpraxen. Diese Flüchtlinge mit Diabetes mellitus werden sich also früher oder später bei Ihnen und mir vorstellen bzw. haben sich schon vorgestellt, und wir müssen uns um sie kümmern.

Fallbeispiel: 42-jährige Frau mit Neuropathie und Retinopathie

Anfang Oktober hat sich eine 42-jährige Frau aus Albanien in der Diabetespraxis Ahaus vorgestellt. Da sie kein Deutsch spricht und ein Dolmetscher nicht verfügbar war, musste schon die erste große Hürde einer sinnvollen Verständigung genommen werden: ich habe auf den Google-Übersetzer zurückgegriffen und am Bildschirm mit ihr zusammen die Anamnese erhoben: sie hat seit 1990 einen Diabetes mellitus und führt eine intensivierte Insulintherapie durch.

Der aktuelle HbA1c-Wert lag bei 9,0 Prozent. Sie hatte eine Diabetische Neuropathie und eine Diabetische Retinopathie mit Makulaödem beidseits und einem Visusverlust von 50 Prozent. Wenn dieser Prozess nicht gestoppt werden kann, droht der Patientin die Erblindung. Sie ist vor etwa 6 Monaten zusammen mit ihrem 12-jährigen Sohn nach Deutschland gekommen; ihr Ehemann ist gestorben, und ihr 19-jähriger Sohn lebt noch in Albanien.

Sie hat einen Asylantrag gestellt, der ziemlich sicher aufgrund ihres Herkunftslandes abgelehnt werden wird. Sie hatte kein Blutglukose-(BG)-Messgerät zur Verfügung und wurde zunächst damit versorgt. Wegen des beidseitigen Makulaödems hatte der Augenarzt eine intravitreale Medikamentengabe empfohlen.

Erste Probleme bei der Kostenübernahme

Die Kostenübernahme für diese erforderliche Therapie wurde zunächst von der zuständigen Behörde mit Verweis auf das Asylbewerberleistungsgesetz abgelehnt. Auf Nachfrage beim zuständigen Gesundheitsamt erhielt ich folgende Information: Einem Asylbewerber kann nicht eine medizinische Leistung gewährt werden, die einer gesetzlich versicherten Person in Deutschland auch nicht so ohne weiteres zur Verfügung steht.

Ich habe daraufhin erneut beim Augenarzt nachgefragt: die intravitreale Medikamentengabe ist seit dem 1. Oktober 2014 EBM-Leistung; das diagnostische Verfahren optische Kohärenzmethode (OCT), mit dem die Netzhautdicke gemessen werden kann und zur Diagnose eines Makulaödems häufig eingesetzt wird, ist derzeit noch nicht Bestandteil des EBMs.

In der Zwischenzeit hat sich die Patientin schon mehrmals in der Diabetespraxis zur Besprechung der BG-Werte vorgestellt: sie hat zeitweise starke BG-Schwankungen und zahlreiche Hypoglykämien. So wie ich in einer solchen Situation bei "normalen" Patienten verfahre, habe ich ihr zu einer Überprüfung der Insulintherapie unter stationären Bedingungen geraten. Dafür musste noch die Versorgung ihres 12-jährigen Sohnes organisiert werden.

Falls erforderlich, hätte er zusammen mit der Patientin in der Diabetologischen Abteilung des Ahauser Krankenhauses aufgenommen werden können. Diese Frage konnte aber inzwischen auch geklärt werden: ein mit der Patientin befreundetes Ehepaar aus Albanien, das ebenfalls einen Asylantrag gestellt haben, wird den Jungen für die Zeit der stationären Behandlung seiner Mutter aufnehmen.

Behörden waren sehr kooperativ und hilfsbereit

Die Kostenübernahme für die stationäre Behandlung musste bei der zuständigen Behörde beantragt werden; die medizinische Notwendigkeit dafür musste vom Gesundheitsamt bestätigt werden. Diese Formalien konnten mit jeweils einem Telefonat und dem Übermitteln der medizinischen Fakten rasch geklärt werden.

Sowohl der zuständige Mitarbeiter der Stadtverwaltung als auch die Kollegin von Gesundheitsamt waren trotz der zusätzlichen Arbeit, die auch sie mit der großen Zahl an Flüchtlingen haben, sehr kooperativ und hilfsbereit. Der Termin für die stationäre Aufnahme der Patientin wurde festgelegt. Es ist jetzt geplant, mit der erforderlichen intravitrealen Medikamentengabe während des stationären Aufenthaltes zu beginnen.

Mir ist klar: wir in Deutschland können nicht alle Flüchtlingsprobleme der Welt lösen. Ich kann aber versuchen, den Menschen auf der Flucht, die als Patienten in die Diabetespraxis Ahaus kommen, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen.



Autor: Dr. Martin Lederle
Diabetes-Forum-Chefredakteur

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (11) Seite 5