Wie bewegt man Menschen, an Maßnahmen zur Vorsorge oder zur Lebensstilintervention teilzunehmen? Darüber hat sich Diabetes-Forum-Chefredaktuer Dr. Martin Lederle Gedanken gemacht.

Sie und ich tun es jeden Tag: in der Kommunikation mit den Patienten sind wir eigentlich immer präventiv tätig, entweder "primär" bei Menschen mit einem hohen Risiko für einen Diabetes mellitus oder "sekundär" bei Patienten mit Diabetes mellitus oder "tertiär" bei Patienten mit diabetesbedingten Folgeerkrankungen, indem wir versuchen, beim Gegenüber eine Verhaltensänderung anzustoßen.

Bei Wikipedia finden Sie zu diesem Begriff folgende Definition: "Prävention (lateinisch praevenire = "zuvorkommen") bezeichnet Maßnahmen zur Abwendung von unerwünschten Ereignissen oder Zuständen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen könnten, falls keine Maßnahmen ergriffen werden. Prävention setzt voraus, dass Maßnahmen zur Verfügung stehen, die geeignet sind, den Eintritt dieser Ereignisse zu beeinflussen."

Das Feld, das es zu beackern gilt, ist riesig

Gerade bei der Betreuung von Patienten mit Typ-2-Diabetes fällt uns allen sofort ein Faktor ein, den wir versuchen, zu beeinflussen: die Adipositas = BMI über 30 kg/m². In der Diabetespraxis Ahaus haben wir im 1. Quartal 2015 über 1.700 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 mitbetreut; 64 % haben aktuell einen BMI von über 30 kg/m²; das "Feld", das wir hier "beackern" können/sollen/müssen, ist also riesig.

Wir wissen, dass bei adipösen Patienten mit Diabetes, denen es gelingt, ihr Gewicht zu vermindern, vieles besser wird: der HbA1c-Wert sinkt, Medikamente können reduziert oder sogar abgesetzt werden und die prognostischen Aussichten (weniger Folgeerkrankungen, vielleicht auch ein längeres Leben) bessern sich. Einigen Patienten gelingt auch eine nachhaltige Gewichtsabnahme, mit unserer Hilfe oder trotz unserer Intervention.

Gewichtsabnahme: einfach in der Theorie, schwer in der Praxis

Physikalisch betrachtet, ist eine Gewichtsabnahme "einfach" zu bewerkstelligen: die Person, die das erreichen will, muss eine "negative" Kalorienbilanz bewirken: dies geht durch eine verminderte Kalorienzufuhr oder – noch besser – durch einen höheren Kalorienverbrauch, also mehr Bewegung. Aber wir wissen aus unserer täglichen Arbeit mit den Patienten, dass dies so einfach nicht in die Tat umzusetzen ist.

An dieser Stelle kommt mir ein Satz von Herrn Eckart von Hirschhausen ins Gedächtnis, den er bei der Eröffnungsveranstaltung der 50. Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft in Berlin geäußert hat: "Menschen, die (zu) viel essen, füllen damit ein Loch." Auch muss ich in diesem Zusammenhang an die Überlegungen von Prof. Achim Peters aus Lübeck (Selfish Brain Theorie) denken: Die erhöhte Kalorienzufuhr und damit der erhöhte Blutglukose-Spiegel ist somit nicht allein ein Krankheitssymptom, sondern eine Bewältigungsstrategie des Gehirns, um seine Energieversorgung zu sichern.

Lebensstilintervention: komplizierte Zusammenhänge

Beim DDG-Kongress in Berlin wurden auch Daten von Kollegen aus Tübingen präsentiert, die seit 2003 mit aufwendigen Methoden die Auswirkungen von Lebensstilinterventionsprogrammen auf Menschen mit einem hohen Risiko für einen Typ-2-Diabetes untersuchen (TULIP). Bei vielen Probanden bessern sich – wie erwartet – die untersuchten Stoffwechselparameter; bei einigen passiert nichts = "non responder", und bei wenigen Teilnehmern haben sich die Werte sogar verschlechtert = "adverse responder". Die Zusammenhänge scheinen doch viel komplizierter zu sein.

Nach § 20 SGB V sollen die gesetzlichen Krankenkassen "Leistungen zur primären Prävention vorsehen". Diese Leistungen zur Primärprävention sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen. Dafür bezahlen sie aktuell je Versicherten und Jahr 3,17 €. Zusätzlich müssen sie Leistungen für die betriebliche Gesundheitsförderung erbringen. Somit gibt es schon heute ein großes Angebot an Präventionsleistungen.

Meine Wahrnehmung: Viele Personen, die diese Leistungen in Anspruch nehmen könnten, tun dies aber nicht, aus welchen Gründen auch immer.

Präventionsgesetz: 511 Mio. Euro für präventive Leistungen

Nach mehreren vergeblichen Anläufen hat die große Koalition jetzt ein neues Präventionsgesetz auf den Weg gebracht; die erste Lesung fand am 20. März 2015 im Bundestag statt. Im Gesetzentwurf sind Gesundheitsziele aufgelistet, die bei der Gesundheitsförderung und Prävention zu berücksichtigen sind. An erster Stelle steht: "Diabetes mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln." Dafür sollen die Krankenkassen pro Versicherten und Jahr dann 7,00 € zur Verfügung stellen.

Somit würden zukünftig insgesamt jährlich etwa 511 Millionen € der Kranken- und Pflegekassen für primärpräventive und gesundheitsfördernde Leistungen bereitstehen. Das neue Gesetz soll Mitte Juni im Bundestag verabschiedet werden.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: "Ziel ist, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. Deshalb müssen wir die Umgebung, in der wir leben, lernen und arbeiten, so gestalten, dass sie die Gesundheit unterstützt – in der Kita, der Schule, am Arbeitsplatz und im Pflegeheim. Mit dem Präventionsgesetz gehen wir jetzt einen wichtigen Schritt hin zu mehr Gesundheitsförderung."

Ich bin gespannt, ob die Menschen diesem aufgezeigten Weg folgen werden.



von Dr. Martin Lederle
Diabetes-Forum-Chefredakteur


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (6) Seite 7