Diabetes-Forum-Chefredakteur Dr. Martin Lederle wirft einen kritischen Blick auf die neuen technologischen Möglichkeiten der Telemedizin sowie auf "googelnde" Patienten.

Sie haben es mit Sicherheit auch schon häufig erlebt: der Patient, der vor Ihnen sitzt, hat im Internet recherchiert und möchte seine "Funde" mit Ihnen besprechen. Dieses zu begrüßende Verhalten (der Patient wird selbst aktiv) wird durch die Ergebnisse einer Studie mit dem Titel "Zweitmeinungsverfahren aus Patientensicht" bestätigt, die die Asklepios Kliniken Hamburg mit dem IMWF Institut für Management- und Wirtschaftsforschung durchgeführt hat; dafür wurden letzten Sommer 1.000 Bundesbürger ab 18 Jahren befragt.

Dabei zeigte sich, dass sich das Internet hierzulande inzwischen zur beliebtesten Informationsquelle in Sachen Gesundheitsfragen entwickelt hat: 65 Prozent der deutschen Patienten ziehen nach ihrem Arztbesuch regelmäßig das Internet heran, um in Foren und Gesundheitsportalen mehr über Diagnosen und Behandlungsempfehlungen ihres Arztes zu erfahren.

Großer Informationsdurst, gerade nach Diabetes-Diagnose

Ich erlebe diesen "Informationsdurst" insbesondere bei Patienten, bei denen gerade die Erkrankung "Diabetes mellitus" neu entdeckt worden ist. Sie versuchen, im Internet nach brauchbaren Informationen zu suchen und werden dabei mit einer Flut von "Angeboten" konfrontiert: wenn sie in die Google-Suchmaschine beispielsweise die Stichworte "Diabetes mellitus Typ 2", "Diabetes mellitus Typ 1" oder "Diabetes Ernährung" eingeben, dann werden ihnen derzeit 559.000 bzw. 469.000 bzw. 805.000 "Ergebnisse" angezeigt.

Daraus die seriösen von den unseriösen oder sogar gefährlichen Informationen unterscheiden zu können, ist fast unmöglich. Wenn mich Patienten nach seriösen Internet-Quellen fragen, dann nenne ich Ihnen z. B. http://www.diabetes-online.de oder http://www.diabetesde.org . Gerade auch jüngere Patienten möchten sich in Foren mit anderen austauschen; dann können sie z. B. auf http://www.blood-sugar-lounge.de nachsehen.

Wir leben ja seit einiger Zeit in der "Smartphone-Ära" und mit dieser Technik können Patienten immer mehr Internet-gestützte "Hilfen" erhalten, um z. B. ihre Blutglukose-Werte zu erfassen und auszuwerten. Dabei können die Daten in einer "Cloud" im Internet gespeichert werden. Dies hat den Vorteil, dass ich als Arzt mir die Patientendaten auf dem Praxis-PC anschauen kann, falls der Patient mir dazu die Berechtigung gegeben hat.

Erinnerungen an Orwells „1984“ werden wach ...

Bei dieser Entwicklung habe ich persönlich aber ein ungutes Bauchgefühl. In meiner Jugend wurde ich unter anderem durch den Film 1984 nach dem Buch von George Orwell beeindruckt. Heute haben wir nicht nur ein big brother, der uns im Auge behält, sondern gleich mehrere (unter anderem Google: wenn ich bei Google nach einer bestimmten Information suche, poppen anschließend automatisch entsprechende Werbenachrichten am Bildschirm auf).

Nicht ohne Grund gab es bei der letztjährigen Gesundheits-IT Messe conhIT eine gut besuchte Diskussionsveranstaltung mit dem Titel "Gesundheitsdaten und die NSA – haben Patienten in Deutschland ein Spionageproblem?" Wir benötigen eine bundesweite sichere Telematikinfrastruktur, in der die sensiblen Gesundheitsdaten geschützt sind und in der die Patienten ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen können. Daran arbeitet die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik).

Aber jeder Computerexperte weiß: "Eine 100-prozentige Sicherheit im weltweiten Netz gibt es nicht."

Telemedizin hilft, aber nur bei guter Umsetzung!

Die Zahl der Patienten mit Diabetes wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Aus heutiger Sicht wird die Zahl der Diabetologen/innen in den nächsten Jahren abnehmen. Ein möglicher Weg, um auch in Zukunft diese wachsende Patientenzahl adäquat diabetologisch versorgen zu können, ist der Einsatz der Telemedizin. Mir ist eine heute 66-jährige Patientin bekannt, die seit 1994 einen pankreopriven Diabetes mellitus hat. Sie wird seit einiger Zeit von einem telemedizinischen Zentrum über telefonische Kontakte mitbetreut.

Auf der Internetseite wirbt dieses Zentrum mit folgenden Worten: "Durch unser Blutzuckermonitoring bieten wir Ihnen eine bessere Versorgungsqualität durch Symptomfreiheit, Vermeidung eines zu hohen oder zu niedrigen Blutzuckerspiegels und die Vermeidung von Folgeerkrankungen. Das Programm bietet eine medizinische Versorgung in häuslicher Umgebung. Aufwändige Wege- und Wartezeiten zu Arztpraxen werden vermieden."

Auf der Internetseite wird auch das Team präsentiert: Es gibt keinen Arzt mit einer nachgewiesenen diabetologischen Kompetenz. Die Patientin übermittelt mit einem speziellen Blutglukose-Messgerät die Werte an das Zentrum und erhält eine Beratung zur Insulindosisanpassung. Die Patientin hat ausgeprägte Veränderungen an ihren "Lieblingsspritzstellen" und nutzt diese immer wieder – trotz mehrfacher "Auge in Auge"-Schulung. Das Telemedizin-Zentrum hat die Patientin noch nie nach den Spritzstellen gefragt. Schöne neue Welt.

Ich habe nichts gegen Telemedizin. Sie muss nur gut gemacht werden.


von Dr. Martin Lederle
Diabetes-Forum-Chefredakteur


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (5) Seite 5