Diabetes mellitus wird von vielen Betroffenen als sehr belastend erlebt. Die Diagnose bedeutet häufig Änderungen der Lebensgewohnheiten in Bezug auf Ernährung und Bewegung. Adhärenz an die medikamentöse Therapie ist erforderlich. Bei Insulintherapie stellen sich hohe Anforderungen.

Der Schlüssel zu dieser Art der Rehabilitation liegt in der Anerkennung, dass auch die Psyche und damit letztlich Verhaltensweisen einen erheblichen Einfluss auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung und damit den Krankheitsverlauf haben. Mentale Zustände wie Stress, Angst und Depression können Stoffwechseleinstellung und den Verlauf der Erkrankung beeinflussen. Für den Typ-2-Diabetes gibt es Daten, die belegen, dass präexistente Depressionen die Manifestation des Diabetes begünstigen. Daher ist es wichtig, nicht nur auf die medizinischen Aspekte der Krankheit zu achten, sondern auch darauf, wie ein Betroffener die Krankheit bewältigt oder ob die seelischen Belastungen, die mit der Diagnose einhergehen, verhindern, das Beste aus seiner Situation zu machen.

Das gleichzeitige Vorkommen von zwei oder mehreren verschiedenen Erkrankungen bei einer Patientin oder einem Patienten wird als Komorbidität bezeichnet. Bei einer körperlichen Erkrankung und gleichzeitigem Vorliegen einer psychischen Belastung spricht man von psychischer Komorbidität. Solche Belastungen sind häufig mit einer geringeren Lebensqualität verbunden, tragen zur Verstetigung (Chronifizierung) bei und verschlechtern die Behandlungsmotivation der Betroffenen. Letztlich erhöht sich dadurch die Rate an Krankenhausaufenthalten und die Sterblichkeit [3].

Spezielle Belastungen bei Diabetes mellitus sind Belastungen durch die Lebensstiländerung, Einschränkungen durch die Therapie, Ängste vor Folgeerkrankungen und Hypoglykämie und eine erhöhte Rate an Depressionen. [7]

Der lebenslange Prozess der Auseinandersetzung mit dem Diabetes mellitus stellt ganz besondere Anforderungen an die betroffene Person und ist in vielfältigen Lebensbereichen spürbar. Eine erfolgreiche Krankheitsverarbeitung ist daher der Schlüssel, um bestehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit der chronischen Krankheit aufzufangen und zu meistern [4]. Die verhaltensmedizinisch-orientierte Rehabilitation zielt darauf ab, die Lebensqualität von Patienten zu verbessern, indem sie psychosoziale Unterstützung und Interventionen mit einbezieht, um den Umgang mit Stoffwechselerkrankungen zu erleichtern und die Umsetzung medizinischen Empfehlungen zu erleichtern[3].

Der Kasten zeigt die typischen Reaktionen und psychosoziale Folgen von chronischen Erkrankungen [2].

Reaktionen und Folgen von chronischen Erkrankungen
Typische Belastungen von Menschen mit Diabetes mellitus im Verlauf von Erkrankungsstadium und Behandlung [2]:
  • vorübergehende oder anhaltende Befindlichkeitsstörungen (z.B. Ängste, Depressionen, emotionale Labilität und Reizbarkeit),
  • veränderte Einstellungen zur eigenen Person (z.B. vermindertes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl),
  • Belastungen für Partnerschaft und Familie,
  • deutliche Verminderung sexueller Aktivitäten und gehäufte Störungen sexueller Funktionen,
  • unbefriedigende Umsetzung (Adhärenz) beim Einhalten medizinischer Maßnahmen und Empfehlungen,
  • häufige Aufgabe von Berufstätigkeit mit Folgen wie Statusverlust, Einkommenseinbußen und veränderten sozialen Rollen sowie
  • die Verminderung von Sozialkontakten und Freizeitaktivitäten.

Besteht bereits ein Diabetes mellitus Typ 2, so ist das Risiko, an einer Depression zu erkranken, um den Faktor 2 erhöht. Bis zu 20 – 25% der Typ-2-Diabetiker leiden unter einer Depression. [1, 8] Umgekehrt erhöht das Vorliegen einer Depression das Risiko an einem Diabetes Typ 2 zu erkranken um 60%. [10] Zweifellos beeinträchtigt das Vorliegen einer Depression die Therapieadhärenz und damit den Verlauf der Erkrankung. Die Mortalität und wahrscheinlich auch die Inzidenz makrovaskulärer Ereignisse ist bei gleichzeitigem Vorliegen einer Depression erhöht. [8] Bei neu diagnostiziertem Diabetes führen psychische Komorbiditäten am häufigsten zu erhöhten Arbeitsunfähigkeitszeiten und Frühberentungen [5, 10]

Die Prävalenz einer Depression ist bei Typ-1-Diabetes genauso hoch wie beim Typ-2-Diabetes. [1] Auch hier gibt es erste Studien die einen bidirektionalen Zusammenhang zwischen Stoffwechselentgleisung und Depression belegen. [6] Etwa 20% der Patienten mit Diabetes weisen eine Angstsymptomatik auf. Das Risiko für Angststörungen ist um etwa 20% gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. Diabetesspezifische Ängste betreffen die Spritzenangst, häufiger die Hypoglykämieangst oder Ängste vor Folgeerkrankungen. Solche diabetesspezifischen Ängste erschweren die Stoffwechselkontrolle erheblich. Spritzenangst führt häufig zu Vermeidungsverhalten mit Weglassen notwendiger Insulininjektionen. Die dadurch hervorgerufenen Blutzuckerentgleisungen veranlassen die Betroffenen nicht selten dazu, auch die Blutzuckermessungen nur noch sporadisch durchzuführen. Angst vor Hypoglykämien lässt die Betroffenen in der Regel viel zu hohe Blutzuckerwerte anzielen, meist werden Werte unter 200 mg/dl psychisch nicht mehr toleriert.

Verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation

Die verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation (VOR) ist grundsätzlich ein Angebot für alle Versicherten der Deutschen Rentenversicherung, die die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine stationäre oder ganztägig ambulante medizinische Rehabilitation erfüllen [12]. Sie ist ein spezifisches Angebot für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit psychischer Mitbelastung sowie Problemen bei der Krankheitsbewältigung. Dabei sollen sowohl die körperlichen, nephrologischen als auch ihre psychischen Funktionseinschränkungen gezielt behandelt werden. Dieses Angebot schließt nicht nur Menschen mit Nierenerkrankungen, sondern auch mit Diabetes mellitus mit ein.

Indikation zur VOR Stoffwechsel

Bei Betroffenen, die entsprechend dem Konzept behandelt werden, liegt immer eine im Vordergrund stehender Diabetes mellitus oder eine andere Stoffwechsel- oder Nierenerkrankung vor. Die psychische Problematik steht in der Regel in engem Zusammenhang mit der Nieren-/Diabeteserkrankung. Die psychische und körperliche Gesundheitsstörung beeinflussen sich meist gegenseitig. Dies führt dazu, dass eine effektive Behandlung beide Bereiche berücksichtigen muss. Die psychische Belastung hat in diesen Fällen wesentlichen Einfluss auf Krankheitsverlauf und Teilhabefähigkeit. Vielmehr ist eine niederschwelligere psychische Unterstützung in enger Kooperation mit auf die somatische Grunderkrankung spezialisierten Fachärzten erforderlich und aussichtsreich. Steht die psychische Erkrankung wesentlich im Vordergrund, kann eine primär psychosomatische Behandlung anstelle von VOR notwendig sein.

Die Verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation erfolgt oft als sog. Heilverfahren. Die Indikation hierzu kann im ambulanten Versorgungsbereich durch Haus- oder Fachärzte gestellt werden. Im Antrag kann die verhaltensmedizinisch-orientierte Rehabilitation in Kombination mit dem Wahl- und Wunschrecht direkt beantragt werden. Ggf. kann der Bedarf aber auch in der Klinik selbst festgestellt werden und zur Umwandlung der Maßnahme in eine VOR führen.

Neben der "klassischen" Rehabilitation mit der fachärztlichen Betreuung und dem Fokus auf Faktoren wie Ernährung, Bewegung, Stress und Medikamenteneinnahme, steht die psychologische Mitbetreuung im Vordergrund. Psychotherapeuten und Ärzte behandeln die Rehabilitanden gleichermaßen.

Kerninhalte der VOR

Bezugsgruppe

Eine Gruppe von acht bis zwölf Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wird gemeinsam in einer sog. Bezugsgruppe behandelt. Die Bezugsgruppe erhält psychologische und bewegungstherapeutische als auch gegebenenfalls weitere indikationsspezifische Therapien gemäß der persönlichen Situation der Rehabilitanden getroffen.

Interdisziplinäre Aufnahme

Zu Beginn der Rehabilitation werden die Rehabilitanden sowohl von ärztlicher als auch von psychotherapeutischer Seite aufgenommen. Mit der psychologischen Aufnahme geht in der Regel eine standardisierte Befindlichkeits- und Leistungsdiagnostik einher, die zum Abschluss der Behandlung wiederholt werden kann.

Was sind die Kern­inhalte der VOR?

Fachübergreifende Fallbesprechungen/Supervision

Im Anschluss an die Aufnahmegespräche, im Verlauf und zum Abschluss finden regelmäßig Fallbesprechungen mit den Ärzten, Psychologen und Therapeuten statt. Die Bezugstherapeuten führen regelmäßig eine gemeinsame interne kollegiale Supervision (=Intervision) durch, um persönliche und fachliche Probleme im Umgang mit den Rehabilitanden zu bearbeiten.

Psychologische Bezugsgruppe "Lebensqualität und Stoffwechselerkrankungen"

Die psychologische Bezugsgruppe "Lebensqualität und Stoffwechselerkrankungen" in der Rehabilitation geht über traditionelle Wissensvermittlung hinaus. Sie befähigt Rehabilitanden, ihre chronische Krankheit in Zusammenarbeit mit Ärzten eigenverantwortlich zu bewältigen. Dieser Ansatz beinhaltet praktische Aspekte der Krankheitsbewältigung und stärkt die individuelle Selbstbestimmtheit, Selbstmanagement und die Erhaltung der Lebensqualität. Die Gruppensitzungen zielen darauf ab, Menschen mit Diabetes und Nierenerkrankungen zu befähigen, ihre Erkrankung eigenverantwortlich in ihr Leben zu integrieren und sekundäre psychische und körperliche Probleme zu bewältigen. Der Gruppenansatz bietet soziales Lernen, Erfahrungsaustausch und unterstützende Gemeinschaft. Themen wie Krankheitsverständnis, Bewältigung, Ängste, Depressionen, Selbstmanagement, soziale Aspekte und Sexualität werden dabei behandelt. Die Sitzungen helfen den Teilnehmenden dabei, persönliche Krankheitsmodelle zu entwickeln, Strategien zur Verbesserung der Selbstorganisation zu erlernen, Ängste anzugehen und Depressionen zu bewältigen. Die Gruppe bietet Raum für Diskussionen über soziale Auswirkungen der Krankheit, Partnerschaftsbelastungen und sexuelle Funktionsstörungen. Abschließend erfolgen eine Strategieentwicklung für Notfallsituationen und eine Evaluation der Gruppenarbeit.

TERMINHINWEIS:
BVKD-Kodierworkshop am 22. März 2024.

Nachsorge

Gerade bei chronischen Erkrankungen kann nicht erwartet werden, daß innerhalb von 4 Wochen eine vollständige Genesung auch der psychologischen Komorbidität erreicht werden kann. Die Empfehlung zur Nachsorge und ggf. ambulanten oder stationären Psychotherapie wird ebenfalls von den psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten gestellt, um die Weiterversorgung der Rehabilitanden zu verbessern.

Die ganzheitliche Betreuung und Unterstützung, die im Rahmen dieser Rehabilitation angeboten werden, sind entscheidend für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Diabetes mellitus. Die verhaltensmedizinisch-orientierte Rehabilitation ist keine Alternative zur medizinischen Behandlung, sondern dient vielmehr als Ergänzung dazu. Die enge Zusammenarbeit zwischen medizinischem Fachpersonal, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten und Psychologen ermöglicht es, eine umfassende Betreuung anzubieten, die über die rein medizinischen Aspekte hinausgeht.

Insgesamt bietet die verhaltensmedizinisch-orientierte Rehabilitation bei Diabetes mellitus eine vielversprechende Möglichkeit, die Lebensqualität zu verbessern, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen und das Wohlbefinden der Patienten zu fördern.

Literatur beim Verfasser


Autor:
© privat
Dr. med. Thomas Helling
Oberarzt, Innere Medizin/Diabetologie
MediClin Staufenburg Klinik, Burgunderstr. 24, 77770 Durbach
Tel. 0781/473-276


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (3) Seite 44-46