Vom 28. September bis zum 1. Oktober 2021 fand die 57. Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) statt. Durch die weltweite Coronaepidemie war schon 2020 der damals in Wien geplante Kongress ein virtueller, und auch 2021 fand das Meeting nicht wie geplant in Stockholm sondern im Internet statt. 13 870 Teilnehmer aus 134 Ländern waren sehr aktiv dabei. Der preiswerte Beitrag – wesentlich geringer als beim virtuellen ADA Annual Meeting – ermöglichte auch vielen Diabetologen aus der Dritten Welt eine aktive Teilnahme. 160 134 Stunden lang folgten die Teilnehmer live den Präsentationen.
Spannendes Online-Programm
Das Programmkomitee unter Leitung von Prof. Mikael Rydén vom Karolinska Institut in Stockholm hatte anhand der wie immer anonym bewerteten Bewerbungen die Präsentationen ausgewählt.
Die Symposien mit eingeladenen Vorträgen und die vielen freien Vorträge lieferten einen umfassenden Blick auf die aktuellsten Ergebnisse der weltweiten Diabetesforschung.
Eingereicht waren 990 Abstracts, davon wurden 701 zur Präsentation angenommen. Die meisten Erstautoren kamen aus dem Vereinigten Königreich (97), gefolgt von Deutschland (72), Dänemark (63) und den USA (60).
Wie auch bei anderen internationalen Kongressen wurden 2021 weniger Abstracts eingereicht – die Pandemie hat die Forschung leider außerordentlich behindert. Kliniker waren durch die Pandemie sehr beansprucht, mancher Diabetologe musste auf einer neu geschaffenen Covid-Station arbeiten. Klinische Studien hatten große Probleme, die Patienten einzubestellen und auch die Laborforschung litt unter Covid, man kann eben im Home Office weder Biochemie betreiben, noch die Labormäuse untersuchen.
High Tech! Ein lebendiges virtuelles Meeting
In diesem Jahr wurden die sonst üblichen Posterpräsentationen durch kurze Videos ersetzt, die sogar schon mehrere Tage vor dem Meeting online verfügbar waren. Man konnte so sehr gut vorbereitet an den live stattfindenden Diskussionen teilnehmen. Wieder lieferte das Team der Firma M-Events in Berlin eine Meisterleistung ab – High-Tech vom Feinsten und eine individuelle Betreuung aller Sessions, durch die immer wieder kleine Probleme der Redner sofort gelöst wurden. Zu bewundern waren besonders die Autoren aus Asien und Australien, die mitten in der Nacht ihre Vorträge halten mussten. Immer führte eine Chairperson live durch die Sitzung, die Teilnehmer konnten sofort Fragen schicken. An den Fragen konnte man ablesen, dass viele berühmte Diabetologen das Meeting live verfolgten.
Bis zum 31. Oktober war das komplette virtuelle Meeting nur für die registrierten Teilnehmer geöffnet. Danach sind die meisten Präsentationen wie üblich frei verfügbar.
Hoffentlich bleibt auch dann die poppige Pausenmusik der Scary Pockets erhalten, die zwischen den Sessions wie ein Coffeebreak aufweckte.
Claude-Bernard-Preis an Prof. Juleen Zierath
Mit dem Claude-Bernard-Preis zeichnet die EASD schon seit 1969 herausragende Diabetesforschung aus – die beiden ersten Preisträger erhielten später den Nobelpreis. Jetzt wurde der Preis zum dritten Mal einer Frau verliehen. Die in Milwaukee geborenen Juleen Zierath studierte in den USA und promovierte Stockholm. Nach einem Aufenthalt an der Harvard Medical School in Boston begann sie 1998 als Professorin am Stockholmer Karolinska Institut. Dort wurde sie auch ins Nobelpreiskomitee berufen, in dem sie mehrere Jahre den Vorsitz hatte. Heute leitet sie sowohl ihr Institut in Stockholm als auch ein von der Novo Nordisk Stiftung gefördertes Forschungsinstitut an der Universität Kopenhagen.
Ihre wohl bedeutendste Entdeckung schaffte es sogar aus der Zeitschrift Cell Metabolism ins Time Magazin, das 2012 schrieb: Wie Sport ihre Gene verändern kann. Zierath hatte gezeigt, dass sportliche Aktivität einen Einfluss auf die DNS hat.
Nach Bewegung fand sie in Muskelzellen eine Demethylierung bestimmter Gene, die den Energiestoffwechsel regeln und so aktiv werden. Auch klinisch praktische Ergebnisse lieferte ihre Forschung. Sie untersuchte an Menschen mit Typ-2-Diabetes die Stoffwechselwirkung von körperlicher Bewegung und fand, dass sich Bewegung am Nachmittag deutlicher auf den Blutglukosespiegel auswirkt.
© EASD / Screenshot:: V. Jörgens | Abb. 1: Preisverleihung: Für herausragende Diabetesforschung erhielt Prof. Juleen Zierath in diesem Jahr den Claude-Bernard-Preis.
Sechs Millionen Kronen für die Erforschung des Typ-1-Diabetes
Die EASD wählt den von der Novo Nordisk Foundation finanzierten „Diabetes Prize for Excellence“ aus. Mit sechs Millionen dänischen Kronen (über 800.000 Euro) ist er sozusagen der „Nobelpreis der Diabetesforschung“.
In diesem Jahr ging die Auszeichnung an Prof. John Todd, der in Oxford ein Forschungszentrum leitet, das sich mit der Genetik des Typ-1-Diabetes und den immunologischen Prozessen bei seiner Entstehung beschäftigt.
Zunehmend ist sein Institut auch mit den internationalen Studien beschäftigt, die neue Interventionen untersuchen, deren Ziel die Verhinderung der Entwicklung des Typ-1-Diabetes ist. So versucht man zum Beispiel, mit niedrig dosiertem Interleukin 2 die Zahl der für die Zerstörung der Betazellen verantwortlichen T-Zellen zu vermindern.
Todd ist auch an der internationalen Studie beteiligt, die versucht, durch orale Gabe von Insulin den Immunprozess bei Typ-1-Diabetes zu vermindern. Auch die Forscher in Oxford arbeiten mit im Netzwerk INNODIA, über das mehrere Vorträge gehalten wurden.
INNODIA kämpft gegen Typ-1-Diabetes
INNODIA koordiniert die Forschung zum Typ-1-Diabetes von 31 europäischen akademischen Instituten und den Firmen Sanofi, Eli Lilly, Novo Nordisk, GSK, Novartis, Imcyse und Univercell Biosolutions. Ziel ist es, die Grundlagenforschung zu fördern und innovative klinische Studien zur Prävention des Typ-1-Diabetes durchzuführen. In Deutschland sind die Universitäten in Dresden, Hannover, München und Ulm beteiligt. Koordinatorin von INNODIA ist Prof. Chantal Mathieu, Vizepräsidentin der EASD.
Mehrere Studien wurden 2020 gestartet, die bei Kindern mit hohem Risiko die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes durch eine Immunintervention aufhalten sollen.
Die Europäische Union, die pharmazeutische Industrie und die US-amerikanische Stiftung JDRF unterstützen die Studien. Für 2023 sind erste Ergebnisse angekündigt, wir warten gespannt darauf, hoffentlich gelingt es, die Entwicklung des Typ-1-Diabetes mit einer dieser Strategien aufzuhalten.
© EASD / Screenshot:: V. Jörgens | Abb. 2: Typ-1-Diabetes im Focus: Prof. Danne aus Hannover berichtete über die INNODIA Initiative.
Den Ursachen des Typ-2-Diabetes auf der Spur
Die brillante Genforscherin Miriam Udler von der Harvard Medical School hielt wie schon auf dem EASD Meeting 2020 einen Übersichtsvortrag über den aktuellen Stand der Forschung mit dem Ziel einer Unterscheidung verschiedener Formen des Typ-2-Diabetes. Sie begann wieder mit der Bemerkung, Typ-2-Diabetes sei heute immer noch eine sehr unbefriedigende, völlig unpräzise Diagnose, eine „waste basket diagnosis“, sozusagen ein „Mülleimer“, in den alles hineinkommt, was man nicht richtig zuordnen kann.
Ein Wendepunkt war 2017 die von Emma Ahlqvist aus der Arbeitsgruppe von Leif Groop auf dem EASD-Meeting in Lissabon präsentierte Studie. Aus sechs klinischen Parametern bei Diagnose des Diabetes hatte man fünf statistische Cluster berechnen können.
Ahlqvist hatte Unterschiede im späteren Verlauf der einzelnen Cluster beschrieben. Während die schwedischen Cluster auf der Grundlage klinischer Parameter gebildet wurden, untersucht Udlers Team poligenetische Scores.
Sehr interessant ist, dass diese genetischen Untersuchungen ähnliche statistische Cluster hervorrufen wie die klinischen Daten.
Jetzt zeigte Udler einen noch nicht veröffentlichten Befund: die Patienten in ihrem Cluster „Lipodystrophie“ haben einen höheren Blutdruck. Bei Patienten in diesem Cluster konnte man auch Veränderung des Stoffwechsels in den Fettzellen feststellen. Wir sind sehr gespannt darauf, was Miriam Udler nächstes Jahr präsentiert.
Eine „Rising Star“-Auszeichnung geht nach Düsseldorf
Seit 2004 vergibt die EASD jährlich vier Rising Star-Preise. Die EASD zahlt dafür 30.000 Euro Forschungsförderung und natürlich die Einladung zum Preisvortrag.
In diesem Jahr war einer der Rising Stars Oana Patricia Zaharia, die am Deutschen Diabetes Zentrum in Düsseldorf arbeitet.
Sie zeigte neue Daten aus der Deutschen Diabetes Studie, die mehrere Gruppen in Deutschland gemeinsam durchführen. Bis zu zwei Jahrzehnte lang sollen in dieser Studie Menschen mit Diabetes verfolgt werden, bei denen die modernsten Untersuchungsmethoden Anwendung finden. Nach Einteilung in die schwedischen Cluster beobachtete man bereits Unterschiede in der Entwicklung von Folgeschäden.
© EASD / Screenshot:: V. Jörgens | Abb. 3: Prof. Icks aus Düsseldorf im virtuellen Gespräch mit Prof. Sattar aus Glasgow.
Jetzt zeigte Zaharia, dass Patienten im Cluster SIRD („Schwerer insulinresistenter Diabetes“) deutlich mehr viszerales Fettgewebe haben, bezüglich des subkutanen Fettgewebes an Armen, Beinen und Abdomen zeigte sich dagegen kein Unterschied.
Aus der Beobachtung dieser Kohorte sind in Zukunft interessante Ergebnisse zu erwarten. Sicher ist schon: es mehren sich die Belege dafür, dass es sich bei Typ-2-Diabetes um mehrere verschiedene Krankheiten handelt.
Auffällige Bakterien im Darm bei Typ-2-Diabetes
Julia van Heck aus Nijmwegen zeigte an 239 Menschen mit Typ-1-Diabetes (Krankheitsdauer im Mittel fast 30 Jahre), dass die Darmflora sich bei ihnen erheblich von der Darmflora von 2 937 Menschen ohne Diabetes unterschied (u. a. mehr Clostridien).
Bestanden Komplikationen des Diabetes, war die Darmflora auch unterschiedlich: bei Nephropathie und Makroangiopathie fanden sich häufiger Clostridialis-Bakterien.
Auch die Einstellung des Diabetes war mit einer Veränderung der Darmflora verbunden. Was bedeuten diese Befunde? Sind sie eine Folge von Medikationen? Auch bei der Pathogenese des Typ-1-Diabetes diskutiert man eine Bedeutung der Darmflora – ein interessanter, wenn auch etwas unappetitlicher Forschungsbereich.
Neuer Test hilft Babys von Müttern mit Glukokinase-Mody
In Exeter wirkt das Team von Prof. Hatterslay, berühmter Experte der gar nicht so seltenen monogenetischen Formen des Diabetes.
Jetzt entwickelte sein Team einen Test, mit dem aus dem Blut der Mutter rechtzeitig festgestellt werden kann, ob das Baby den „Glukokinase MODY“ geerbt hat oder nicht.
Das ist klinisch wichtig, denn nur wenn das Baby die Störung erbt, gibt es keine Probleme, ist das Baby aber gesund, bildet es wegen des immer leicht erhöhten Blutzuckerspiegels der Mutter zu viel Insulin.
FIDELIO und FIGARO
Bayer entwickelte den Aldosteronantagonisten Finerenone, der bereits im Juli 2021 in den USA von der FDA zum Einsatz bei Patienten mit Nephropathie zugelassen wurde. Beethoven und Mozart sind mnemotechnisch hilfreich, um sich die Namen der Studien zu merken:
FIDELIO untersuchte an 5 734 Patienten mit Nephropathie und Typ-2-Diabetes als primären Endpunkt den Verlauf der Nierenfunktion. Der primäre Endpunkt der FIGARO-Studie an 7 473 Patienten waren kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität.
In FIDELIO kam es unter Finerenone im Mittel über 2,2 Jahre absolut in 3,3 % seltener zum Erreichen des Endpunkts (Abfall der eGFR um ≥ 40 ml/min, Nierenversagen, renaler Tod). Dies scheint zahlenmäßig wenig, in Anbetracht der Schwere der Erkrankung und des raschen Fortschreitens mag aber auch ein kleiner Vorteil bedeutsam sein, so hat dies wohl die FDA gesehen und das Präparat sehr zügig zugelassen. Nach langer Zeit gibt es also wieder eine Hoffnung, den Verlauf der Nephropathie mit einem weiteren Medikament günstig zu beeinflussen, das zusätzlich zu allen bisherigen therapeutischen Möglichkeiten eingesetzt werden kann.
FIGARO hatte das primäre Ziel, die kardiovaskulären Effekte von Finerenone zu untersuchen. Die rekrutieren Patienten unterschieden sich nur unwesentlich von denen der FIDELIO Studie. Auch diese Studie wurde mittlerweile im New England Journal of Medicine publiziert. Es kam in 1,8 % seltener zum kardiovaskulären Endpunkt (kardiovaskulärer Tod, nicht tödlicher Herzinfarkt, Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz). Häufigste Nebenwirkung des Finerenone ist wie bei einem Aldosteronantagonisten nicht anders zu erwarten die Hyperkaliämie.
Sozialstatus bestimmt den Verlauf des Typ-1-Diabetes
Aus der Universität Glasgow präsentierte Andreas Höhn den Zusammenhang zwischen dem Sozialstatus und der Entwicklung der Folgeschäden sowie der Lebenserwartung bei Menschen mit Typ-1-Dia-betes in Schottland. Dort können Forscher schon seit vielen Jahren auf umfassende Gesundheitsdaten aller Menschen zugreifen, dies ermöglichte schon sehr wichtige Studien. In Deutschland, wo man für die Weiterleitung von Statistiken noch Faxgeräte benutzt und manche allzu peniblen Datenschützer eine hilfreiche Vernetzung in der Medizin behindern, wird man wohl kaum jemals solche Studien durchführen können.
Teilt man in Schottland Menschen mit Typ-1-Diabetes dem Sozialstatus entsprechend in fünf Gruppen ein, sieht man einen frappierenden Unterschied bezüglich der Lebenserwartung und des Auftretens von Folgeschäden – trotz des gut organisierten kostenfreien Gesundheitswesens in Schottland.
Zwischen der höchsten und der niedrigsten Gruppe unterscheidet sich die Lebenserwartung ausgehend vom 50. Lebensjahr bei Männern um 8,15 Jahre und bei Frauen um 5,54 Jahre. Grund dafür ist das seltenere Auftreten von Folgeschäden des Diabetes: In der sozial am meisten privilegierten Gruppe haben im Alter von 50 Jahren doppelt so viele keinerlei Folgeschäden (ca. 10 %), wenn man sie mit den am wenigsten privilegierten vergleicht (ca. 5 %). Schon Rudolf Virchow wurde politisch aktiv, er bezeichnete die Sozialpolitik als Medizin im größeren Rahmen, er würde anhand solcher Daten auch heute noch dasselbe sagen.
Innovativ: Trimaster fragte, was Betroffene wünschen
Die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Trimaster- Studie rekrutierte 1 500 Menschen mit Typ-2-Diabetes, die bereits mit Metformin und Sulfonylharnstoffen behandelt waren. Sie erhielten verblindet Canagliflozin, Sitagliptin und Pioglitazon, drei orale Antidiabetika, die zur Zeit der Planung der Studie im Vereinigten Königreich häufig eingesetzt wurden. Die Behandlung dauerte 16 Wochen, dann kamen ebenfalls verblindet die beiden übrigen Medikamente an die Reihe.
Danach wurden die PatienInnen bezüglich Nebenwirkungen befragt und berichteten auch, welches Medikament sie bevorzugen würden.
Ein sehr interessanter Studienansatz, der bisher in der Diabetologie einmalig ist. Durchgeführt wurde die Studie von den Universitäten Exeter, Dundee, Glasgow und Oxford – die Studienleiter sind ein Who‘s who der Britischen Diabetologie, auch Rury Holman, einer der UKPDS-Forscher, war beteiligt.
Lieber Canagliflozin als Pioglitazon
Bei der Befragung am Ende der Studie bevorzugten 38,7 % Canagliflozin, 34,8 % Sitagliptin und nur 25,8 % Pioglitazon. Sehr weit lagen diesen Präferenzen nicht auseinander. Aber was war der Grund für die Entscheidung? Häufiger wurde das Medikament präferiert, unter dem es zur besten Wirkung auf das HbA1c gekommen war. Auch die Nebenwirkungen waren ein wichtiger Grund für die Wahl eines Medikaments, traten sie häufiger auf, wurde dieses Medikament nicht bevorzugt. Spätere Auswertungen sollen mit dem Ziel durchgeführt werden, herauszufinden, welches Medikament bei welchem Patienten besser wirkt. Ziel ist eine Hilfe bei der Individualisierung der Therapie.
Highlight GRADE: was tun, wenn Metformin nicht reicht?
Schon auf der virtuellen Jahrestagung der Amerikanischen Diabetesgesellschaft gab es vorläufige Ergebnisse der GRADE-Studie.
Jetzt war die Präsentation der endgültigen Ergebnisse Highlight des EASD Annual Meetings.
Der Name Grade ergibt sich aus dem Studientitel: Glycemia Reduction Approaches in Diabetes. Die Studie verglich Glimepirid, Glargin, Linagliptin und Liraglutid bei 5.000 Menschen mit Typ-2-Diabetes, die bereits mit Metformin behandelt wurden. Man musste sich auf Medikamente beschränken, die zum Zeitpunkt des Beginns der Studie in den USA zugelassen waren, deshalb wurde kein SGLT2 -Hemmer einbezogen. Finanziert wurde die Studie aus öffentlichen Mitteln. Firmen unterstützten die Studie erst nach Auswahl der Therapiearme durch kostenlose Lieferung der Medikamente, in den USA leider eine notwendige Maßnahme, weil manche Patienten sich teurere Medikamente und Selbstkontrollen nicht leisten können.
Prof. David Nathan, Initiator und Leiter der Studie, hatte leider vergeblich versucht, deutlich mehr Mittel von der NIH zu bekommen, um als primären Endpunkt kardiovaskuläre Ereignisse untersuchen zu können. Dies hätte aber viel mehr Teilnehmer, eine längere Laufzeit und damit sehr viel höhere Kosten verursacht. So blieb es bei metabolischen Ereignissen als primärer Endpunkt der Studie.
Ablauf der GRADE-Studie
Menschen mit Typ-2-Diabetes, bei denen der Diabetes seit weniger als 10 Jahren bekannt war, wurden aufgenommen. In einer „Run-in-Phase“ wurde Metformin auf eine Dosis zwischen 1.000 (Minimum) und 2.000 (Ziel) mg/Tag titriert. Bei der letzten „Run in“-Untersuchung sollte das HbA1c zwischen 6,8 und 8,5 % liegen. Dann wurden 5.000 Menschen mit Typ-2-Diabetes zufallsmäßig vier Gruppen zugeteilt. Das mittlere Alter lag bei 50 Jahren. 63,6 % waren Männer, was daran lag, dass viele staatliche Kliniken für Veteranen an der Studie teilnahmen.
Zur Anwendung kamen: der Sulfonlyharnstoff Glimepirid, der DPP-4 Hemmer Sitagliptin, das GLP-1-Analogon Liraglutid und Insulin glargin (meist zur Nacht in geringer Dosierung). Ein SGLT2-Hemmer wurde nicht aufgenommen, weil zu Beginn der Studie von dieser Substanzgruppe noch kein Mittel in den USA zugelassen war. Zwei der Präparate müssen injiziert werden, deshalb war die Studie nicht verblindet, alle Laboruntersuchungen und Auswertungen erfolgten aber verblindet.
Nach der UGDP und der UKPDS war GRADE die dritte große Studie zur Therapie des Typ-2-Diabetes, die nicht von einer pharmazeutischen Firma finanziert wurde.
Einbezogen waren wie bei UKPDS und UGDP nicht ausschließlich Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko, wir es bei allen Medikamentenstudien in der jüngsten Vergangenheit der Fall war. Im Gegenteil, Patienten, bei denen im Jahr vor der Studie ein kardiovaskuläres Ereignis eingetreten war, wurden ausgeschlossen.
Filigranes Design
Der Studienplan zeigt, dass hier Profis am Werk waren. Es ging darum, das Versagen der Therapie über die Zeit möglichst genau beschreiben zu können. Deshalb gab es mehrere metabolische Endpunkte. Primärer Endpunkt war die Zeit, bis das HbA1c ≥ 7,0 % anstieg. Dann wurde aber die Medikation nicht geändert und abgewartet, bis der HbA1c Wert über 7,5 % stieg. Damit war dann der sekundäre metabolische Endpunkt erreicht.
Jetzt wurde Insulin glargin zugefügt und abgewartet, bis der HbA1c Wert wieder über 7,5 % anstieg. Damit war dann der tertiäre metabolische Endpunkt erreicht. Dass die initialen Therapien im Laufe der Zeit versagen würden, war zu erwarten. Den Autoren ging es um die Frage, wie wirksam und wie dauerhaft die vier Therapien waren und welche Nebenwirkungen auftraten.
Leider keine Screenshots erlaubt
Ausdrücklich verbaten sich die Autoren bei der Präsentation beim virtuellen EASD-Meeting Screenshots der Abbildungen der Studie, so dass man die sehr informativen Graphiken der Ergebnisse erst in der Publikation sehen wird, deren Veröffentlichung in einer der besten Zeitschriften zu erwarten ist. Ob wohl alle Zuhörer diesen Hinweis beachtet haben? Die zwei Tasten für den Screenshot sind schnell gedrückt. Solche Restriktionen sind meiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäß: wegweisende und für Betroffene relevante Studienergebnisse gehören so schnell wie möglich in die Öffentlichkeit und dürfen nicht warten, bis eins der Journale sie veröffentlicht hat.
Sitagliptin wirkte am schwächsten
Nach vier Jahren wurde der primäre metabolische Endpunkt in ca. 60 – 70 % erreicht. Die höchste Versagerquote hatte Sitagliptin. Besonders bei initial hohen HbA1c Werten versagte Sitagliptin häufiger. Der sekundäre metabolische Endpunkt (HbA1c über 7,5 %) wurde unter Behandlung mit Insulin glargin in 39 % erreicht, unter Liraglutid in 46 %, mit Glimepirid in 50 % und mit Sitagliptin in 55 %.
Zusammenfassend sagte John Buse, dass mit Insulin glargin und Liraglutid der primäre Endpunkt seltener und später erreicht wurde und dass bezüglich des sekundären Endpunkts Insulin glargin am effektivsten war, gefolgt von Liraglutid.
Viele Auswertungen dieser Studie werden noch folgen, denkbar ist, dass Liraglutid besonders bei Adipositas effektiv war.
Insulin: auch nach 100 Jahren noch Nummer Eins!
Festhalten kann man aber schon jetzt, dass eine geringe Dosis Verzögerungsinsulin zur Nacht über längere Zeit bei Typ-2-Diabetes eine sehr effektive Alternative zu anderen Antidiabetika sein kann und bei sachgerechter Schulung und Dosierung nicht häufiger zu Hypoglykämien führt. Aber auch in den anderen Studienarmen konnte häufig über mehrere Jahre eine gute Stoffwechselkontrolle erreicht werden. Mit Sicherheit wird man sich sehr genau ansehen, ob sich Patienten identifizieren lassen, bei denen bestimmte Medikamente besonders gut wirken – vielleicht liefert uns diese Studie noch Anhaltspunkte für eine wissenschaftlich fundiertere Differentialtherapie bei Typ-2-Diabetes. Schon jetzt gibt es erste Hinweise darauf, dass ein Cluster am meisten von einer Therapie mit Insulin profitiert.
Marie Pigeyre von der McMaster Universität in Hamilton/Canada wertete die Daten der über 7.000 Teilnehmer der ORIGIN-Studie aus und fand, dass das SIDD-Cluster (severe insulin deficiency) in ORIGIN am meisten von der Insulintherapie profitierte. Sie bestätigte auch das häufigere Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse im SIRD-Cluster (severe insulin resistent diabetes).
Kardiovaskuläre Endpunkte – gab es einen Unterschied?
Obwohl die GRADE-Studie nicht groß genug war, um kardiovaskuläre Ereignisse als primären Endpunkt zu untersuchen, wurden diese Daten natürlich ausgewertet.
Es handelte sich bei GRADE um Menschen mit viel niedrigerem Risiko als in den bekannten Studien mit SGLT2-Hemmern oder GLP-1-Rezeptor Agonisten.
Immerhin kam es aber zu insgesamt 443 kardiovaskulären Ereignissen. Statistisch gesichert traten diese unter Liraglutid seltener auf als unter Glimepirid und Sitagliptin. Gegenüber Insulin glargin gab es keinen signifikanten Unterschied. Gab es schon ein kardiovaskuläres Ereignis in der Vorgeschichte, kam es unter Liraglutid am seltensten zu kardiovaskulären Ereignissen (13 im Vergleich zu 18 unter Glargin, 23 unter Glimepirid und 31 unter Sitagliptin). Betrachtet man aber die Mehrzahl der Studienteilnehmer, bei denen anamnestisch keine kardiovaskulären Ereignisse vorlagen, gab es keinen statistisch signifikanten Unterschied (Liraglutid 73, Insulin glargin 98, Glimepirid 95 und Sitagliptin 92 Fälle).
Kluger Kommentar von Prof. David Matthews
David Matthews war neben Robert Turner einer der Autoren der berühmten UKPDS, deren Ergebnisse er selbst 1998 auf dem EASD-Meeting in Barcelona präsentierte. Er war von der EASD gebeten, einen Kommentar der GRADE-Studie zu liefern. Matthews beglückwünschte das Autorenteam von GRADE zur perfekten Durchführung der Studie. Er unterstrich, dass wie in der UKPDS auch in GRADE im Mittel der Typ-2-Diabetes kontinuierlich schwieriger zu therapieren war und die Behandlung eskaliert werden musste.
Interessant war sein Hinweis, dass von den kardiovaskulären Endpunkten besonders die Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz unter Liraglutid numerisch seltener waren – wegen der geringen Fallzahl war dies nicht statistisch signifikant, trug aber besonderes zum Gesamtergebnis bei.
GRADE wird in nächster Zeit auf nationalen Kongressen kontroversen Diskussionsstoff liefern. Weitere Auswertungen von Subgruppen werden folgen. Obwohl nicht auf kardiovaskuläre Endpunkte „gepowert“, liefert diese Studie interessante Informationen zu der Frage: was tun, wenn Metformin allein nicht hilft? Zahllose Kommissionen in aller Welt haben wieder Pflichtlektüre für die nächste Auflage ihrer Leitlinien.
Nächstes Jahr wieder live in Stockholm
Ein Online-Kongress kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzen, und so freuen sich weltweit die Dia-betesforscherInnen schon auf 2022: endlich wird es das EASD-Meeting vom 20. – 23. September 2022 wieder LIVE geben, wenn nicht eine neue Virusvariante zuschlägt. Der Honorary Secretary, Prof. Michael Ryden vom Karolinska Institut, Leiter des EASD Programmkomitees, der schon zwei Online-Meetings organisieren musste, wird dann die Teilnehmer endlich einmal persönlich begrüßen können. In 2023 wird das EASD Annual Meeting vom 3. – 6. Oktober erstmals in Hamburg stattfinden.
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Erschienen in: Diabetes-Congress-Report, 2021; 21 (6) Seite 14-22