Auf dem Kongress der Amerikanischen Diabetesgesellschaft wurden einige Studienergebnisse präsentiert, die Evidenz für Therapieoptionen bei Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 sowie für die medikamentöse Behandlung von Menschen mit Adipositas schaffen. Eine Einordnung der präsentierten Ergebnisse gibt Dr. Matthias Axel Schweitzer, Medizinischer Direktor Novo Nordisk Deutschland.
Diabetes-Congress-Report (DCR): Beim Kongress der amerikanischen Diabetesgesellschaft in diesem Jahr wurden spannende Studienergebnisse vorgestellt. Die GRADE- Studie, die bereits im Jahr 2008 auf den Weg gebracht wurde, ging der Fragestellung nach, welches Medikament das Beste für die Second-Line-Therapie der Menschen mit Typ-2-Diabetes ist, wenn Metformin alleine nicht mehr ausreicht, um befriedigende Blutglukose-Werte zu erreichen. Was zeigen die Ergebnisse?
Dr. Matthias Axel Schweitzer: Verantwortlich für die vergleichende Wirksamkeitsstudie GRADE [1,2], die beim amerikanischen Diabeteskongress (ADA) dieses Jahr vorgestellt wurde, war das National Institute for Diabetes, Digestive and Kidney Diseases. Über 5.000 Patient*innen waren in der Studie eingeschlossen. Die Autor*innen stellten sich die Frage: Welche Medikamentenklasse, vertreten durch ausgewählte Medikamente dieser Medikamentenklassen: Liraglutid (GLP-1-Rezeptoragonisten (RA)), Sitagliptin (DPP-4-Inhibitor), Glimeripid (Sulfonylharnstoff) und Insulin glargin 100 E/ml (Insulin), eignet sich für eine Therapie nach Metformin bei Menschen mit Typ-2-Diabetes am besten? Die Ergebnisse zeigten, dass Liraglutid und Insulin glargin 100 E/ml bezüglich der metabolischen Wirkung am besten abgeschnitten haben. Hinsichtlich der kardiovaskulären Risikoreduktion war Liraglutid im Vorteil, verglichen mit den drei Vergleichspräparaten Sitagliptin, Glimepirid und Insulin glargin 100 E/ml.
Heute stehen als Therapieziele der Blutzuckerwert und die metabolischen Effekte nicht mehr ausschließlich im Fokus. Zu Recht werden Komplikationen wie kardiovaskuläre Risiken und auch das Gewicht ebenfalls betrachtet. Auch hier war Liraglutid überlegen. Daher ist die Studie eine sehr schöne Bestätigung für das, was auch die Leitlinien empfehlen: Einen frühen Einsatz von GLP-1-RA mit Medikamenten wie Liraglutid, die prognostisch wirksam sind und kardiovaskuläre Komplikationen verzögern und verhindern können.
DCR: In Deutschland wurde im März die nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Typ-2-Diabetes [3] veröffentlicht. Sie enthält unter anderem das Thema medikamentöse Therapie des Glukosestoffwechsels. Wie ist der Stand der deutschen Leitlinie vor dem Hintergrund dieser neuen Studienergebnisse einzuordnen?
Dr. Schweitzer: Wir sind sehr glücklich, dass wir mit der neuen Leitlinie einen wirklichen Schritt nach vorne gemacht haben. „Wir“ heißt in dem Fall: Alle, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Behandlung von Menschen mit Typ-2-Diabetes zu verbessern. Zum einen ist zu begrüßen, dass es sich um eine einheitliche Leitlinie handelt, in der zahlreiche Fachgesellschaften einen eindeutigen, gemeinsamen Weg in der Therapie aufzeigen. Darüber hinaus wird in den Empfehlungen – basierend auf den Ergebnissen der kardiovaskulären Endpunktstudien [4–7] – das kardiovaskuläre Risiko berücksichtigt und der Blutzuckerwert steht nicht mehr allein im Fokus.
Da es sich bei Diabetes um eine progressiv verlaufende Erkrankung handelt, wird die Therapieintensivierung mit einer Insulintherapie, insbesondere mit einem Basalinsulin, nach Ausschöpfung der nicht-medikamentösen Basistherapie und wenn das individuelle Therapieziel im Rahmen der medikamentösen Behandlung mit oralen Antidiabetika und ggf. GLP-1-RA nicht erreicht wird, auch weiterhin empfohlen [3] – was im Einklang mit der Studie GRADE [1,2] steht. Für alle Menschen mit Diabetes und für alle Phasen ihrer Erkrankung stehen damit moderne und effektive Medikamente mit guter Evidenzlage zur Verfügung [3].
DCR: Adipositas ist ein Risikofaktor für Typ-2-Diabetes. Darüber hinaus ist Adipositas der stärkste Risikofaktor für schwere und letale Verläufe bei einer Corona-Erkrankung bei jüngeren Menschen. Ob Adipositas selbst eine Erkrankung ist, war in Deutschland lange umstritten. Am dritten Juli 2020 wurde für Menschen mit Adipositas ein Meilenstein erreicht. Der Deutsche Bundestag hat Adipositas als Krankheit anerkannt. Gab es auf dem Kongress der amerikanischen Diabetesgesellschaft Erkenntnisse zu neuen Ansätzen in der Adipositastherapie?
Dr. Schweitzer: Selbstverständlich gab es auch im Bereich der Adipositastherapie Neuigkeiten. Wir – Novo Nordisk – haben unser Studienprogramm STEP [8–11] präsentiert, in welchem die Wirkung von Semaglutid 2,4 mg bei Menschen mit Adipositas untersucht wird [a]. Die unterschiedlichen Studien STEP 1 bis 4 [8–11] untersuchten zum Beispiel den Effekt von Semaglutid 2,4 mg bei Menschen mit Übergewichta, die einer intensivierten, strukturierten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie unterzogen werden oder bei Menschen mit Typ-2-Diabetes und Adipositas. Die Studie STEP 4 [11] ist eine Gewichterhaltungsstudie, in der die Studienteilnehmer*innen zunächst 20 Wochen mit Semaglutid 2,4 mg behandelt und erst anschließend randomisiert wurden. Eine Gruppe erhielt im Anschluss ein Placebo, die andere Gruppe weiterhin Semaglutid 2,4 mg.
DCR: Adipositas ist eine multifaktorielle Erkrankung. Welche Verfahren zur Behandlung gibt es bisher in Deutschland? Welche sind wirksam? Welche stehen den Patient*innen zur Verfügung?
Dr. Schweitzer: Die S3-Leitlinien zur Therapie des Übergewichts [12] empfehlen unterschiedliche Therapiemöglichkeiten, darunter in erster Linie die Ernährungstherapie, die Bewegungstherapie und die Verhaltenstherapie, aber auch Gewichtsreduktionsprogramme. Medikamentöse Therapien finden in den Empfehlungen aktuell leider noch wenig Beachtung, obwohl hier große Fortschritte gemacht wurden. Studien zeigen, dass das Gewicht bei Gabe eines entsprechenden Medikaments auch nachhaltig gesenkt werden kann, was auch Komplikationen oder Folgeerkrankungen der Adipositas reduzieren kann. Dies ist besonders wichtig für die Patient*innen selbst, aber auch bei Betrachtung der volkswirtschaftlichen Seite.
DCR: Was müsste geschehen, damit Patient*innen mit Adipositas in Deutschland gut versorgt werden?
Dr. Schweitzer: Versorgung beinhaltet für mich sowohl die Prävention als auch die Therapie selbst. Hinsichtlich der Therapie ist zunächst einmal anzumerken, dass Übergewicht in Deutschland noch nicht vollständig als medizinische Erkrankung anerkannt ist. Wir brauchen jedoch ein strukturiertes Therapieprogramm, das von unterschiedlichen Akteur*innen des Gesundheitssystems – also Fachärzt*innen und Fachpersonal aber auch Fachgesellschaften – gemeinsam entwickelt wird und entsprechend qualitätsgesichert ist. Damit muss es auch Einzug in die Erstattung finden, denn die Adipositastherapie ist – wie jede Therapie von Erkrankungen – kostenintensiv. Das können Menschen mit Übergewicht auf Dauer nicht selbst tragen.
DCR: Adipositas und Typ-2-Diabetes, der durch Übergewicht und Adipositas begünstigt wird, entstehen nicht akut von einem Tag auf den anderen, oft werden die Weichen für eine Entwicklung der Adipositas schon früh im Leben gestellt. Sehen Sie hier eine Chance für präventive Ansätze? Wie könnten diese aussehen?
Dr. Schweitzer: Das ist eine sehr wichtige Frage, mit der wir uns auch als Unternehmen beschäftigen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Zahl der Menschen mit Adipositas ebenso wie die Zahl der Menschen mit Diabetes nicht weiter ansteigt, sondern reduziert wird. Wir brauchen präventive Ansätze, die bereits jungen Menschen einen gesunden Lebensstil – bestehend aus gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung – näherbringen. Initiativen wie Cities Changing Diabetes tragen dazu bei, dass Verantwortliche hier vor allem in Städten erreicht werden und gemeinschaftlich Präventionsmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden.
Enorm wichtig ist auch das Wissen um die Zusammenhänge. Unsere Veranstaltung Camp D für Jugendliche und junge Erwachsene bietet sich an, um hier edukative Elemente zu integrieren. Denn auch im jungen Alter spielt Übergewicht eine zunehmende Rolle. Es ist wichtig, dass wir Adipositas als Erkrankung ernst nehmen, präventiv tätig werden unter der Nutzung aller Möglichkeiten und dann therapeutisch eine qualitätsgesicherte, flächendeckende Behandlung zur Verfügung stellen.
DCR: Seit nun hundert Jahren steht Insulin für die Behandlung von Menschen mit Diabetes zur Verfügung. Im Laufe der Zeit gab es stetige Fortschritte in der Forschung und Entwicklung von Insulinpräparaten, um die Wirkung des von außen zugeführten Insulins immer weiter an die physiologische Wirkweise körpereigenen Insulins anzunähern. Auch auf dem Kongress der amerikanischen Diabetologen wurden neue Ergebnisse zu aktuellen, weiterentwickelten Insulinen präsentiert. Welche wichtigen Entwicklungen gibt es derzeit?
Dr. Schweitzer: Wir feiern im Moment hundert Jahre Insulin. Das ist ein toller Geburtstag, den wir nicht nur feiern, weil damit unser Unternehmen Novo Nordisk entstanden ist, sondern auch, weil es dadurch heute eben bereits so lange lebensrettende Insuline gibt, die viele gute Eigenschaften haben, die Insuline in früheren Jahren noch nicht hatten: Sie sind länger und gleichmäßiger wirksam, sie sind schneller und kürzer wirksam. Sie führen nicht mehr zu so vielen Unterzuckerungen wie frühere Insulinformulierungen und bieten sehr viel mehr Flexibilität in der Applikation und der regelmäßigen Insulindosierung.
Diese Entwicklungen resultieren aus dem Verstehen der Bedürfnisse der Patient*innen sowie aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Verständnis darüber, was man mit einer Veränderung des Insulinmoleküls bei gleichbleibender Sicherheit erreichen kann und natürlich dem biochemischen Verständnis über das Insulinmolekül und dem Verhalten von Insulinformulierungen im menschlichen Körper. Es sind dabei besonders die lang wirksamen Insuline, bei denen versucht wird, die Wirksamkeit so zu verlängern, dass man sie nicht mehr jeden Tag injizieren muss. Aus der einmal täglichen könnte dann die einmal wöchentliche Injektion werden. Es sind aber auch spezielle Insuline, die dann für einen speziellen Bedarf entwickelt werden könnten, wie zum Beispiel ein spezielles Pumpen-Insulin – auch mit der Idee, hier nicht nur die Effizienz der Closed-Loop-Systeme zu unterstützen, sondern auch die Liegezeiten der Injektionssysteme zu verlängern. Dies hätte auch eine deutliche Reduktion von Abfall und von Rohstoffmaterialien zur Folge.
Das Ziel, der Traum, ist aber natürlich ein Insulin zu entwickeln, das sich im menschlichen Körper selbst reguliert. Das wäre ein Insulin, das man als Depot injiziert, und das dann auf ansteigenden Blutzucker reagiert und wieder aufhört zu arbeiten, wenn der Blutzucker abfällt – also ein Glukose-sensitives Insulin. Auch daran arbeiten wir. Dazu haben wir erste Konzepte in Phase-1-Studien. Ein weiteres Forschungsfeld ist der Versuch, aus Stammzellen differenzierte Betazellen zu entwickeln, die dann selbständig Insulin produzieren und je nach Bedarf in den Blutkreislauf abgeben. Das wäre quasi eine Heilung des Diabetes mit wieder funktionierenden Betazellen. Auch daran arbeiten wir mit großen Schritten nach vorne, nicht nur im Hinblick auf die Produktion dieser Zellen, sondern auch im Hinblick auf die „Verpackung“, mit der wir die Zellen in den Körper zurückgeben. Dabei ist die Hoffnung, dass wir im Jubiläumsjahr von Novo Nordisk, dem hundertjährigen Geburtstag des Unternehmens im Jahr 2023, mit ersten klinischen Studien am Menschen beginnen können.
DCR: Welche Vorteile sehen Sie bei Insulinformulierungen, die nur einmal wöchentlich gespritzt werden müssen?
Dr. Schweitzer: Die Entwicklung eines Basalinsulins, das nur noch einmal wöchentlich appliziert werden müsste, könnte natürlich einen großen Schritt hinsichtlich der Erleichterung der Therapie bedeuten. Patient*innen könnten ihre Insulintherapie dadurch für den Lauf der Woche im Prinzip vergessen oder sie können sich nur noch auf die Dosierung und Gabe ihres Bolusinsulins konzentrieren. Menschen mit Diabetes müssen, wenn sie ein Basalinsulin und ein Bolusinsulin verwenden, jeden Tag daran denken, mehrfach zu injizieren und ihren Blutzucker zu messen. Das kann eine große Belastung im Alltag darstellen. Ein einmal wöchentliches Insulin könnte da Entlastung bringen – vor allem, wenn man sich den passenden Injektionszeitpunkt relativ frei aussuchen kann. Wir untersuchen in Studien zu unserem einmal wöchentlich zu applizierenden Basalinsulin Insulin icodec, das sich aktuell in der klinischen Phase 3 befindet, auch, wie groß dabei der zeitliche Spielraum ist, wie sehr sich die einmal wöchentliche Injektion zeitlich verschieben lässt. Es ist möglich, dass das Insulin dabei so „gutmütig“ ist, dass man eine Injektion am nächsten Tag nachholen könnte, wenn man den anvisierten Injektionstermin vergessen hat, oder man eine Injektion gegebenenfalls bei Bedarf sogar vorziehen könnte.
DCR: Gibt es Patientengruppen, die hiervon besonders profitieren können?
Dr. Schweitzer: Wir entwickeln das einmal wöchentlich zu applizierende Insulin icodec sowohl für Menschen mit Typ-2-Diabetes als auch für Menschen mit Typ-1-Diabetes. Eine unserer Phase-3-Studien ist explizit zu Typ-1-Diabetes, die anderen zu Typ-2-Diabetes angelegt. Es gibt dabei sicherlich eine ganze Menge denkbarer Einsatzgebiete für die Erleichterung der Insulintherapie und auch deswegen entwickeln wir Insulin icodec.
DCR: Kann man schon etwas zur Therapieadhärenz sagen?
Dr. Schweitzer: Wir haben das Phase-2-Studienprogramm mit 600 Patient*innen abgeschlossen. Aktuell läuft das Phase-3-Studienprogramm ONWARDS mit mehreren tausend Patient*innen. Die Therapieadhärenz scheint dabei sehr gut zu sein und soweit mir bekannt ist, gibt es keine Schwierigkeiten damit, dass die Patient*innen auch an die Applikation des Insulins denken. Auch akzeptieren die Patient*innen die hohe Insulindosis einmal pro Woche gut. Ich bin daher sehr zuversichtlich, dass wir entsprechend gute Ergebnisse aus dem Phase-3-Studienprogramm bekommen können.
Gibt es Daten zum Risiko von Hypoglykämie?
Dr. Schweitzer: In den Ergebnissen der Phase II Studien haben wir gesehen, dass Insulin icodec im Vergleich zu einmal täglichen Basalinsulin Insulin glargin 100 E/ml vergleichbare Ergebnisse hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit gezeigt hat [13,14]. Wir sind daher sehr gespannt auf die Ergebnisse im großen Phase III Studienprogramm.
Die Fragen stellte Ingeborg Fischer-Ghavami.
Erschienen in: Diabetes-Congress-Report, 2021; 21 (6) Seite 36-39