Es geht eine ansteckende Krankheit um in unserem Land: die Zertifizitis. Im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen gibt es kaum einen Bereich in der Diabetologie der nicht mit Auflagen, Nachweispflichten und Regeln belegt ist. Oder haben Sie schon einmal gehört, dass ein Kardiologe 50 Patienten nachuntersuchen muss, um die Qualität seines Echobefundes zu überprüfen? In der Regel wird angenommen, dass er dies in seiner langjährigen Ausbildung erlernt hat und in der Praxis nach dem Stand des Wissens anwendet. Sollte er zumindest.
Auch die Diabetesfachberufe sind von immer stärkeren Regeln betroffen. So verlangt die AOK in Rheinland-Pfalz von Diabetesberater:innen regelmäßig fünftägige (!) Hospitationen zum Erhalt ihrer Kompetenzen. Die KV Rheinland-Pfalz andererseits hat gleich drei ambulante, diabetologische Versorgungsebenen mit unterschiedlichen personellen Voraussetzungen etabliert. Wozu? Zu allem Ärger existieren beim Diabetischen Fuß auch noch unterschiedliche Zertifizierungssysteme für Patienten verschiedener Kassen. Das ist nicht mehr zu rechtfertigen.
Die Industrie "zertifiziert" Schwerpunktpraxen, um Ihnen die "Berechtigung" zur technischen Anleitung ihrer Produkte zu übertragen. Das spart natürlich Kosten und ist ein beliebter Marketing-Trick zur vermeintlichen Aufwertung einer Praxis. Und wir fallen darauf herein und hängen diese Urkunden gern an die Wand. Die DDG hat gleich drei stationäre Labels "Diabetologie" entwickelt. Um das aber noch zu toppen, soll zukünftig zusätzlich "modularisiert" werden, um Kliniken mit spezifischer Expertise für Fußsyndrom, Schwangerschaft oder Psychologie zu kennzeichnen. All dies in einer Zeit, in der die Krankenhausreform den Bestand der stationären Diabetologie per se in Frage stellt und wir um den Fortbestand an diabetologischer Expertise an Kliniken in der Fläche kämpfen.
Seine Ursachen hat dieses Dilemma in den Anfängen der Qualitätssicherung in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Diabetologie mit Initiativen wie FQSD, ASD, DPV u.a. wichtige Impulse setzte, um dieses notwendige Thema in die Diskussion zu bringen. Viele dieser Initiativen existieren nicht mehr. Wir erleben eine zunehmende Verflechtung von Interessen, die einerseits vorgeben, Qualität zu messen, andererseits aber direkt von der Vermarktung profitieren. Ein Beispiel ist die Bezeichnung "Hypertensiologe" für Ärzt:innen mit besonderen Kenntnissen in der Hochdrucktherapie. Die Deutsche Hochdruckliga vergibt das Zertifikat nach Absolvierung der kostenpflichtigen Grundkurse und fordert jährliche (kostenpflichtige) Seminare zum Erhalt des Zertifikats. Herausgeber, Kontrolleur und ökonomischer Nutznießer sind in diesem Fall ein und dieselbe Institution. Profis dieses Systems verlagern daher gerne die Prüfstelle an externe Anbieter, die aber personell eng mit der Institution verbunden sind – siehe DDG.
Das Institut für Qualitätssicherung (IQTIG) hat das Problem erkannt und Ende 2023 die Überprüfung tausender deutscher Zertifikate im Medizinbereich angekündigt. Essentieller Bestandteil der Prüfung werden die Prinzipien der Trennung von Herausgeber und Prüfer des Zertifikats, die Messung und Veröffentlichung der Ergebnisse der Maßnahmen, sowie das Audit vor Ort sein. Damit werden ein Großteil der heutigen Zertifikate entfallen, die zwar überbordende Kataloge von Strukturqualität, aber minimale Ergebnisqualität prüfen. Benötige ich wirklich zwingend ein Monofilament Semmes-Weinstein im Verbandswagen zur Messung der Qualität der Behandlung des Fußes oder nicht besser ein Amputationsregister? Wäre es nicht sinnvoller, die Frequenz der Hypoglykämien in einem Klinikum zu überwachen, als einen abgeschlossenen Schulungsraum für Menschen mit Diabetes in der Diabetesabteilung zu fordern?
Qualität messen wir am besten an den Ergebnissen. Hierzu gilt es sektorübergreifend die Daten intelligent zu verbinden, welche wir alle tagtäglich sammeln. DMP-Daten sollten mit Daten der stationären (ICD/OPS) und ambulanten Versorgung (Rezepte, Verordnungen, Überweisungen) verknüpft werden, um reale Abbildungen des Behandlungsprozesses zu ermöglichen und Veränderungen zu messen. Dafür würde ich gerne ein Zertifikat vergeben.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (4) Seite 5