Wie sollte die Therapie des Typ-2-Diabetikers fortgesetzt werden nach der Erstlinientherapie mit Metformin, um einen HbA1c-Wert im Zielbereich weiterhin zu gewährleisten? Um diese Frage zu klären, wurde die GRADE-Studie durchgeführt, die mit über 5 000 Studienteilnehmern und einer Nachbeobachtungseit von fünf Jahren ein Basalinsulin mit drei Medikamenten unterschiedlicher Wirkstoffklassen verglich. Im Folgenden wird dargelegt, welche Ergebnisse auf dem virtuellen Kongress der ADA (American Diabetes Association) vorgestellt wurden und wie sie eingeordnet werden können.
Das Coronavirus Sars-Cov-2 dürfte weltweit kaum Freunde haben. Ganz bestimmt nicht die Forscher hinter der GRADE-Studie. Wird die Bekanntgabe der Ergebnisse solcher Großstudien normalerweise auf einem der großen Diabeteskongresse vor Tausenden von Zuhörern zelebriert und die jahrelange Arbeit damit gebührend gewürdigt, war die Bühne für die mit Spannung erwarteten Daten von GRADE nur so groß wie ein Computerbildschirm, statt anerkennendem oder gar enthusiastischem Applaus erklangen höchstens Windows-Systemklänge: Die Pandemie erzwang auch in diesem Jahr einen virtuellen ADA-Kongress, das GRADE-Symposium war wie das gesamte Tagungsprogramm letztlich eine Videokonferenz wie so viele andere.
Langersehnte Evidenz für die Therapie nach Metformin
Der Bahnhof für GRADE wäre groß gewesen, weil eine Zeit lang kaum ein Vortrag zur medikamentösen Therapie des Typ-2-Diabetes ohne den Hinweis „Diese Daten wird erst die GRADE-Studie liefern“ auskam.
Denn GRADE untersuchte im Direktvergleich vier Medikamente, die nach einer Metformin-Monotherapie als nächster Schritt eingesetzt werden können: den Sulfonylharnstoff Glimepirid, den DPP-4-Hemmer Sitagliptin, den GLP-1-Rezeptoragonisten Liraglutid und das Basalinsulin Glargin [1].
Deborah Wexler sagte auf dem ADA-Symposium zur Vorstellung der Daten, dass die GRADE-Studie durchgeführt wurde, um die Lücke in den Leitlinien nach der Erstlinientherapie Metformin zu füllen. „Ich denke, sie wird diese Lücke füllen“, zeigte sie sich überzeugt. Julio Rosenstock als einer der Moderatoren der Session fragte sich zu Anfang, ob GRADE eine starke Evidenz generieren würde mit in der Folge klareren Ratschlägen an die klinischen Praktiker oder ob die Leitlinien weiter nur gleichrangige Optionen zur Therapie nach Metformin anbieten.
Der primäre Endpunkt, in dem GRADE die vier Medikamente miteinander verglich, war ein metabolischer, GRADE war also nach den zahlreichen aufsehenerregenden kardiovaskulären Endpunktstudien mal wieder eine Diabetesstudie im engeren Sinne.
Und mit fünf Jahren Follow-up sammelte GRADE auch deutlich länger Daten als einige, wenn nicht gar die meisten dieser nach dem „kurzsichtigen Sicherheitsverständnis“ der FDA aufgesetzten Studien, die zum Teil nur ein medianes Follow-up von 18 Monaten oder zwei Jahren aufwiesen, wie David Matthews als unabhängiger Kommentator auf dem Symposium kaum verhohlen kritisierte.
Der primäre metabolische Endpunkt von GRADE war, wenn man so will, negativ formuliert, es war die Zeit bis zu einem bestätigten HbA1c von 7,0 Prozent oder mehr.
Mancher mag für dieses oft als „Therapieversagen“ titulierte Ereignis die Grenze von 7,0 Prozent allzu hart finden, aber so ist eben das gebetsmühlenhaft ausgegebene Ziel für die Stoffwechselkontrolle. Die Zeit bis zum primären Endpunkt war mit 697 Tagen oder 1,9 Jahren bei auf Sitagliptin randomisierten Teilnehmern am kürzesten, 2,2 Jahre waren es mit Glimepirid und jeweils 2,4 Jahre mit Glargin und Liraglutid. Bereits nach den ersten sechs Monaten des Follow-ups erreichte die kumulierte Inzidenz des primären Endpunkts in der Sitagliptin-Gruppe 30 Prozent, „während es in den anderen Gruppen rund die Hälfte davon war“, wie John Lachin bei der Vorstellung der Ergebnisse herausstellte.
„Der Unterschied zwischen den vier Kurven ist hochsignifikant“, erklärte der Biostatistiker der George Washington University. Über im Mittel fünf Jahre Follow-up fanden sich in der Sitagliptin-Gruppe mit 77 Prozent mehr Teilnehmer mit dem primären Endpunkt als in der Glimepirid-Gruppe mit 72 Prozent, in dieser Gruppe wiederum waren es mehr als in den Glargin- und Liraglutid-Gruppen, in denen der Anteil mit 67 und 68 Prozent laut Lachin in einer ähnlichen Größenordnung lag.
Die Unterschiede bei der Zeit bis zum „Versagen“ der Therapie waren nach Meinung von Dr. med. Andreas Lueg damit im Mittel nicht sehr groß, im Alltag der täglichen Arbeit würden sie unter Umständen unentdeckt bleiben, zum Beispiel wenn sie sich nur alle zwei bis drei Quartale mal in der hausärztlichen Praxis vorstellen und nicht quartalsweise in der diabetologischen Schwerpunktpraxis, gab er Ende Juli auf der von Berlin-Chemie organisierten Fortbildungsveranstaltung Dialect zu aktuellen Daten vom ADA zu bedenken.
Progressive Natur des Typ-2-Diabetes mit drei Endpunkten erfasst
„Das Studiendesign von GRADE nutzte eine Trias an Endpunkten, um die progressive Natur von Typ-2-Diabetes zu erfassen“, erklärte Lachin. Sekundärer metabolischer Endpunkt war die Zeit bis zu einem HbA1c über 7,5 Prozent.
„Über den Verlauf der Studie war Glargin effektiver darin, ein HbA1c von unter 7,5 Prozent aufrechtzuerhalten als Liraglutid, welches wiederum effektiver war als Glimepirid und Sitagliptin“, fasste Lachin zusammen.
55 Prozent in der Sitagliptin-Gruppe erreichten im Verlauf der im Mittel fünf Jahre Follow-up diesen sekundären Endpunkt im Vergleich zu nur 39 Prozent in der Glargin-Gruppe. Die Zeit bis zu diesem Endpunkt war im Mittel über vier Jahre zwischen Glargin und Liraglutid laut Lachin mit 3,3 und 3,2 Jahren fast identisch, auch mit Glimepirid dauerte es über drei Jahre, mit Sitagliptin 2,8 Jahre.
Tab. 1: Relative Risikoreduktion für den primären Endpunkt der GRADE-Studie für die Substanz in Spalte 1 gegenüber den Substanzen in der ersten Zeile im paarweisen Vergleich. [mod. nach Lachin J, Symposium „Results of the Glycemia Reduction Approaches in Diabetes – A Comparative Effectiveness (GRADE) Study“, 81. ADA-Kongress, 28. Juni 2021]
Nach Erreichen des sekundären Endpunkts wurde in den drei nicht mit Insulin behandelten Studiengruppen Glargin zu der bisherigen Medikation hinzugefügt, in der Insulingruppe wurde die Insulintherapie mit Mahlzeiteninsulin intensiviert.
Die Zeit bis zum erneuten Anstieg des HbA1c über 7,5 Prozent unter dieser Therapie war der tertiäre Endpunkt. Während des ersten Jahres erlitt ihn laut Lachin quasi kein Studienteilnehmer, danach sei die Inzidenz fast linear angestiegen. Über die fünf Jahre erreichten 31 Prozent mit Glimepirid und 30 Prozent mit Sitagliptin nach dem sekundären Endpunkt erneut die HbA1c-Marke von über 7,5 Prozent, mit Glargin und Liraglutid waren es jeweils 26 Prozent.
Nach Erreichen des tertiären Endpunkts wurde jegliche Studienmedikation außer Insulin gestoppt und die Insulintherapie weiter intensiviert. Diese Unterschiede spiegeln laut Lachlin auch die Entwicklung des HbA1c im Verlauf des Follow-up der GRADE-Studie wider. In den ersten drei Monaten zeigten alle Gruppen einen substanziellen Rückgang beim HbA1c, stärker in den Liraglutid- und Glimepirid-Armen. Nach einem Jahr war der HbA1c-Wert im Liraglutid-Arm immer noch signifikant niedriger und im Sitagliptin-Arm höher, Glimepirid und Glargin waren gleichauf dazwischen. „Dieser Unterschied war hochsignifikant“, beschrieb er.
Über die vier Jahre mit fast vollständigem Follow-up – 85,3 Prozent der Kohorte beendeten vier Jahre oder mehr Follow-up – stiegen die HbA1c-Werte in allen Gruppen an. Die HbA1c-Werte der vier Arme unterschieden sich nach vier Jahren statistisch signifikant, größtenteils bezeichnete Lachin die Unterschiede aber als vernachlässigbar. Der Auffassung ist auch Lueg, „am Ende nähern die Kurven sich aber dann doch wieder sehr an“, so der Hamelner Diabetologe, „und steigen vor allen Dingen sanft über die Zeit recht gleichmäßig an.“
Er nannte angesichts dessen als ein wesentliches Fazit von GRADE: „Die Progression des Typ-2-Diabetes wurde durch keine der Therapien aufgehalten.Letztlich benötigte ein nicht unerheblicher Anteil der Patienten schon nach der Studiendauer von vier Jahren Insulin.“
Doch GRADE ist viel mehr als eine Studie über die Blutzuckerkontrolle. „GRADE wurde entworfen, um bei der Auswahl blutzuckersenkender Medikamente zusätzlich zu Metformin zu helfen auf der Basis des Effekts auf das HbA1c, die Dauerhaftigkeit der Wirkung, der Wirkung auf Komplikationen, der Verträglichkeit und der Nebenwirkungen“, erläuterte David Nathan, Initiator und Leiter der Studie. Die Kurven zu mikrovaskulären Komplikationen, die Wexler auf dem Symposium zeigte, sahen alle recht ähnlich aus.
„In dieser Population mit relativ neu aufgetretenem Diabetes gab es keine Unterschiede zwischen einer der Behandlungsgruppen bei der Entwicklung einer moderaten oder schweren Albuminurie, einer eGFR unter 60 mL/min/1,73 m² oder einer distalen sensorischen Polyneuropathie“, so Wexlers Fazit.
Gut 5.000 Teilnehmer mit Metformin-Monotherapie
In GRADE eingeschlossen wurden Menschen mit Typ-2-Diabetes unter Metformin-Monotherapie [4]. Die mittlere Dosis bei Screening war 1.576 mg, bei Randomisierung lag sie nach einer Run-in-Phase mit der Zieldosis von 2.000 mg Metformin bei 1.944 mg. Randomisiert wurden dann 5 047 Patienten, die nach dem Run-in ein HbA1c zwischen 6,8 und 8,5 Prozent aufweisen mussten. Die Studienteilnehmer von GRADE waren im Mittel 57,2 Jahre alt, rund 12 Prozent waren unter 45, je ungefähr zu gleichen Teilen 45 bis 59 und 60 oder älter. Die mittlere Dia-betesdauer lag bei 4,2 Jahren. Laut Steven Kahn war das Einschlusskriterium für GRADE anfangs eine Diabetesdauer von unter fünf Jahren, es sei im ersten Jahr auf unter zehn Jahre geändert worden.
Matthews kritisierte das Einschlusskriterium Metformin-Monotherapie als nicht sehr spezifisch, es erzeugt nach seinen Worten eine breite Mischung aus tatsächlich frisch diagnostizierten Patienten, solchen die schlecht behandelt wurden, solchen die schlicht zu arm waren, um sich neben Metformin noch andere Medikamente zu leisten, und auch Patienten mit „Borderline Diabetes“.
Noch kein Unterschied bei mikrovaskulären Endpunkten
Zu Studienbeginn hatten nur 2,5 Prozent der Teilnehmer eine eGFR unter 60, 1,7 Prozent eine schwere und 14,2 Prozent eine moderate Albuminurie. „Der Anteil der Studienteilnehmer mit Progression zu einer moderaten Albuminurie stieg über die Zeit an, aber unterschied sich nicht zwischen den Studienarmen“, erklärte Wexler, er erreichte 11 Prozent mit Liraglutid und Sitagliptin und 12 Prozent mit Glargin und Glimepirid.
Auch die schwere Albuminurie stieg mit der Zeit an, auch hier ohne signifikante Unterschiede: Zwischen 4,7 Prozent (Glargin-Gruppe) und 5,4 Prozent (Liraglutid-Gruppe) entwickelten eine schwere Albuminurie. Beim Abfall der Nierenfunktion auf eine eGFR unter 60 fand sich ebenfalls kein Unterschied zwischen den Gruppen, 12 bis 14 Prozent der Teilnehmer erreichten diesen Endpunkt.
Eine distale sensorische Polyneuropathie war in GRADE definiert als Score ab 2,54 beim modifiziertem Michigan Neuropathy Screening Instrument [5]. Diesen Score erreichten schon zu Studienbeginn 27,3 Prozent der Teilnehmer, im Mittel lag der Ausgangs-Score bei 2,0.
Im Verlauf der Studie stieg die kumulierte Inzidenz einer distalen sensorischen Polyneuropathie deutlich an, die Mehrheit der Teilnehmer entwickelte diese Komplikation ohne Unterschied zwischen den Studienarmen (69 bis 72 Prozent).
Natürlich untersuchte GRADE auch makrovaskuläre Diabeteskomplikationen. „Auch wenn GRADE nicht für kardiovaskuläre Endpunkte gepowert war, identifizierte das Studienteam sie als klares Gebiet von Interesse“, erklärte John Buse. Zum einen wegen dem in den bisherigen Endpunktstudien à la EMPA-REG Outcome [2] oder LEADER [3] nicht möglichen Vergleich von gleich vier Medikamenten, aber auch wegen der laut Buse „fundamental unterschiedlichen Population von GRADE verglichen mit vorherigen kardiovaskulären Studien“.
Elefant im Raum: SGLT2-Hemmer fehlen
Auch das offensichtliche Manko der GRADE-Studie wurde auf dem ADA-Symposium breit diskutiert: Mit den SGLT2-Hemmern fehlt eine heute zentrale Therapieoption des Typ-2-Diabetes. Studienleiter David Nathan begründete dies so, dass mit Canagliflozin der erste SGLT2-Hemmer in den USA erst zugelassen wurde, als GRADE bereits lief. Das und die naturgemäß noch geringe Erfahrung mit der neuen Wirkstoffklasse hielt die Initiatoren nach, wie Nathan berichtete, „sorgfältiger Abwägung“, davon ab, einen SGLT2-Hemmer nachträglich zur Studie hinzuzufügen. GRADE sollte explizit etablierte, sichere Medikamente einschließen – nicht zuletzt wegen der noch recht präsenten Erfahrung mit Rosiglitazon. David Matthews als unabhängiger Kommentator lies diese Begründung nicht ohne weiteres durchgehen. Er rechnete vor, dass die informativsten Daten aus GRADE über vier Jahre Follow up gesammelt wurden. Da die Studie bis 2021 lief, war vier Jahre zuvor 2017 – vier Jahre nachdem Canagliflozin von der FDA zugelassen worden war und zwei Jahre, nachdem die Daten von Empa-Reg Outcome präsentiert worden waren. Einer Studie, darauf wies Matthews hin, in dessen Leitungsgremium wie in GRADE ebenfalls John Lachin saß. „Ich denke ihre sorgfältige Abwägung war nicht sorgfältig genug“, kritisierte Matthews klar, „ich denke wir sollten den Autoren einen Tritt dafür versetzen, dass sie die SGLT2-Inhibitoren übergangen haben – aber wir werden den Autoren keinen Tritt versetzen, weil sie sich selbst schon wiederholt getreten haben werden“, zeigte er sich mit unnachahmlichem britischem Charme gnädig. Aber es bleibe schade, dass die GRADE-Daten schon jetzt veraltet seien, „oder, wenn ich so sagen darf, degradiert“, setzte er noch ein Wortspiel oben drauf. In der Diskussion am Ende des Symposiums erwähnte Nathan, dass ein weiteres Medikament wegen der dann nötigen zehn paarweisen Vergleiche eine Verdoppelung der Studiengröße nach sich gezogen hätte – mit entsprechenden Verzögerungen um ein Jahr oder zwei, um die nötige Finanzierung zu sichern. Matthews bezeichnete das Fehlen der SGLT2-Hemmer in GRADE denn auch als „Unfall der Geschichte“.
Zumindest für eine Diabetespopulation habe es sich um Patienten mit relativ niedrigem kardiovaskulärem Risiko gehandelt, erklärte er. Er wies darauf hin, dass eine Herzinsuffizienz mit NYHA III und mehr und ein schweres kardiovaskuläres Ereignis im letzten Jahr Ausschlusskriterien von GRADE waren. Nur 6,5 Prozent hatten zu Studienbeginn bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten, „also sicherlich keine Population mit sehr hohem Risiko“, ordnete Buse ein.
Für ein Komposit aus allen adjudiziert erhobenen kardiovaskulären Endpunkten – MACE, Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz, instabile Angina, TIA oder Revaskularisierung – fanden sich statistisch signifikante Unterschiede unter den vier untersuchten Medikamenten: Für Liraglutid fand sich eine niedrigere kumulierte Inzidenz, für Glargin, Glimepirid und Sitagliptin dagegen ähnliche Inzidenzen, so Buse.
5,8 Prozent der Teilnehmer unter Liraglutid und 7,6 Prozent bis 8,6 Prozent der Teilnehmer in den anderen drei Gruppen entwickelten nach dieser breiten Definition ein kardiovaskuläres Ereignis. Im Direktvergleich der einzelnen Gruppen war Liraglutid gegenüber Glargin und Glimepirid zwar numerisch, aber nicht statistisch signifikant besser, gegenüber Sitagliptin fand sich für den GLP-1-Rezeptoragonisten ein signifikant um 34 Prozent niedrigeres Risiko für den kardiovaskulären Komposit-Endpunkt.
Obwohl sich statistisch für den MACE-Endpunkt kein Unterschied zwischen den Gruppen ergab, wies Buse auf die numerisch niedrigere Inzidenz unter Liraglutid verglichen mit den drei anderen Medikamenten hin. 2,8 Prozent der Teilnehmer unter Liraglutid entwickelten ein MACE-Ereignis, in den anderen drei Gruppen waren es 3,4 bis 4,3 Prozent. Gleiches galt auch für die Hospitalisierungen aufgrund von Herzsuffizienz, ein doch deutlicher Trend zu einer niedrigen Inzidenz unter Liraglutid war hier zu sehen, 1,0 Prozent der Teilnehmer in diesem Arm erlitten dieses Ereignis verglichen mit 2,0 bis 2,4 Prozent in den übrigen Armen. Auch für die Gesamtmortalität fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den vier Studienarmen, aber numerisch ein klarer Gewinner: 2,1 Prozent der Studienteilnehmer im Liraglutid-Arm verstarben, 3,1 Prozent im Sitagliptin-Arm, 3,2 Prozent im Glargin- und 3,4 Prozent im Glimepirid-Arm.
Für die kardiovaskulären Endpunkte gab es ein wichtiges Caveat: Zum Zeitpunkt der Präsentation der Daten Ende Juni waren erst 90 Prozent der Ereignisse adjudiziert, diese Ergebnisse sind also noch als vorläufig anzusehen, wie die Autoren betonen.
Rund 150 spät berichtete Endpunkte müssen noch adjudiziert werden, Lachin wies darauf hin, dass die Signifikanzlevel der Endpunkte sich also durchaus noch ändern können, zumal manche recht knapp ausfielen. Nathan wies darauf hin, dass manche dieser Endpunkte wegen fehlender oder nicht zu interpretierenden Daten nie adjudiziert werden können, „wir hoffen aber, bald auf 95 Prozent zu kommen“, gab er einen Ausblick. Kahn wies darauf hin, dass wegen der noch nicht kompletten Adjudizierung die direkten Vergleiche zwischen den Medikamenten für die Endpunkte MACE, Herzinsuffizienz und Gesamtmortalität noch nicht auf dem ADA berichtet wurden.
Seltsam hoher Anteil mit schweren Nebenwirkungen
Den Anteil an Studienteilnehmern, die schwere Nebenwirkungen entwickelten, unter anderem jedes Ereignis, das zu Hospitalisierung oder Verlängerung eines Krankenhausaufenthalts führte, bezeichnete Mary Larkin als insgesamt niedrig, zwischen den Gruppen fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied.
Im Verlauf der Studie trat eine schwere Nebenwirkung bei 33 Prozent der Teilnehmer im Liraglutid-Arm, bei 35 Prozent im Sitagliptin-, 36 Prozent im Glargin und 37 Prozent im Glimepirid-Arm auf.
„Wenn diese schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse bei rund 35 Prozent der Patienten auftauchen, dann kann man hier nicht von seltenen Ereignissen sprechen“, kritisierte Lueg diese Beschreibung deutlich. Aus der Praxis seien solche hohen Zahlen für schwerwiegende Ereignisse nicht bekannt, Lueg nannte sie glatt unglaubwürdig und hofft auf die Vollpublikation zur Aufklärung.
Datenschatz nutzen
GRADE wird auf Jahre noch spannende Analysen generieren, Kahn gab auf dem Symposium einen kleinen Ausblick: Erstens plane man die Heterogenität der Antwort auf die blutzuckersenkende Medikation weiter zu untersuchen, um Informationen für eine personalisierte Medizin zu bieten. In GRADE wurden regelmäßig orale Glukosetoleranztests durchgeführt, auf dieser Basis plane man zum Beispiel weitere Subgruppenanalysen nach Insulinsensitivität und β-Zell-Funktion. Anhand der im Rahmen der Studie erhobenen genetischen Daten soll untersucht werden, ob es spezielle Genotypen gibt, die die Therapieantwort auf die Antidiabetika vorhersagen. Es sollen mögliche Mechanismen der Verschlechterung der Blutzuckerkontrolle mit der Zeit untersucht werden, die sich auch in GRADE wieder gezeigt hat. Als Beispiele solcher Mechanismen nannte Kahn vorübergehende Veränderungen in der Insulinsensitivität, der β- und α-Zell-Funktion. Anhand einer zweiwöchigen kontinuierlichen Glukosemessung bei 1.749 Teilnehmern von GRADE mit unterschiedlichem ethnischem Hintergrund soll der Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Blutzuckerwert und dem HbA1c bestimmt und verglichen werden. In GRADE wurden auch zahlreiche andere Parameter erhoben, was vergleichende Aussagen zu den vier Medikamenten zum Beispiel über den Einfluss auf die kognitive Funktion oder die Lebensqualität ermögliche und, besonders wichtig laut Kahn, zur Kosteneffizienz.
Unwidersprochen als relativ selten in der Studie insgesamt bezeichnete Larkin schwere Hypoglykämien. Trotzdem fand sich hier ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Studienarmen: Der Anteil war mit 2,3 Prozent in der mit Glimepirid behandelten Gruppe klar höher als bei den mit Glargin (1,4 Prozent), Liraglutid (0,9 Prozent) oder Sitagliptin (0,7 Prozent) behandelten Gruppen.
Die Fallzahlen an Pankreatitis und Bauchspeicheldrüsenkrebs unterschieden sich zwischen den Armen ebenfalls nicht, von den 37 Pankreatitis-Fällen traten 13 unter Glimepirid auf, 10 unter Liraglutid, 8 unter Glargin und 6 unter Sitagliptin.
Auch die Gewichtszunahme wurde in GRADE als Nebenwirkung untersucht. „Die Gewichtsentwicklung hat viele erstaunt“, kommentierte Lueg, man sehe nicht die typische und auch erwartete Gewichtsanstiegskurve von Glargin und Glimepirid. Gleichzeitig sehe man auch, dass Sitagliptin und Liraglutid den anderen beiden Substanzen im Hinblick auf die Gewichtsentwicklung überlegen waren.
Nach einem Jahr war das Gewicht unter Liraglutid am stärksten gesunken, auch unter Sitagliptin wurde ein geringeres Gewicht im Vergleich zu Glimepirid und Glargin beobachtet. Auch nach vier Jahren waren diese Verhältnisse aufrechterhalten, für Liraglutid wurde zu diesem Zeitpunkt ein Minus von im Mittel rund vier Kilogramm beobachtet; das Ausgangsgewicht der Teilnehmer von GRADE lag im Mittel bei 100,0 Kilogramm.
Der Anteil an Studienteilnehmern, die eine Gewichtszunahme von mindestens zehn Prozent verzeichneten, war mit 6,1 Prozent unter Liraglutid signifikant niedriger als in den anderen drei Armen mit 9,2 (Sitagliptin), 12 (Glimepirid) und 13 Prozent (Glargin). Der Anteil an Teilnehmern mit gastrointestinalen Symptomen war mit 60 Prozent im Liraglutid-Arm höher als in den anderen drei Armen mit je rund 50 Prozent.
Bei wem versagt Sitagliptin früh?
Schon bei der Vorstellung der Ergebnisse diskutiert wurde die Deutung des primären Endpunktes. Matthews wies darauf hin, dass die HbA1c-Kurven nach gut einem Jahr für alle vier Arme quasi parallel verlaufen.„Der Hauptunterschied der Linien geht auf Menschen zurück, bei denen Sitagliptin fast von Anfang an versagt hat.“
Das bringe die Frage mit sich, was die Charakteristika dieser Menschen waren. Lachin präsentierte hierzu eine von Matthews als hilfreich eingeschätzte Subgruppenanalyse. Subgruppen-Unterschiede wurden in GRADE in sechs Kategorien untersucht, einzig das Ausgangs-HbA1c zeigte eine Heterogenität für den primären Endpunkt, die Lachin als hochsignifikant bezeichnete.
Im untersten Terzil mit einem Ausgangs-HbA1c von 6,8 bis 7,2 Prozent verliefen die Linien nach Matthews Beschreibung über weite Zeit ziemlich ähnlich, schon im mittleren Terzil von 7,3 bis 7,7 Prozent und ganz eindeutig im obersten Terzil von 7,8 bis 8,5 Prozent mit einer Inzidenz des primären Endpunkts im ersten Jahr von rund 60 Prozent stechen die Sitagliptin-Kurven negativ heraus. Matthews zeigte sich gespannt zu erfahren, was außer dem hohen Ausgangs-HbA1c diese Teilnehmer gemeinsam haben.
Auch grundsätzlicher wurden die Resultate der Studie diskutiert. Co-Moderator Hertzel Gerstein fragte angesichts des HbA1c-Verlaufs in GRADE, den man auch aus anderen Studien mit einzelnen Medikamenten hinreichend kennt, was von frühen Kombinationstherapien zu halten ist, mit denen in Blutzuckermanagement-Studien der HbA1c-Verlauf ja quasi flach war.
Buse sagte, dass GRADE diese Frage nicht direkt adressiert, „die Studie, um diese Frage korrekt zu adressieren, muss noch gemacht werden.“ Er wies darauf hin, dass mit einer solchen zum Beispiel postulierten Dreifachtherapie früh, vielleicht sogar im Prädiabetes-Stadium, ein enormer Anteil der Bevölkerung für Jahrzehnte behandelt werden würde. Nicht für alle diskutierten Medikamente dieser Kombination gebe es die nötigen Sicherheitsdaten. Der Forschungsbedarf in dieser Frage sei definitiv da, „es gibt Möglichkeiten für eine intensivere Therapie früh in der pathophysiologischen Geschichte des Typ-2-Diabetes“, so Buse.
Rosenstock wies darauf hin, dass Matthews in der VERIFY-Studie [6] genau diese frühe Kombination mit Erfolg untersucht hat, „es ist klar, dass die sequenzielle Therapie es nicht schaffen wird, wir müssen es simultan machen, und die VERIFY-Studie ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür.“
Nathan berichtete, dass auch dies in den anfänglichen Planungen für GRADE mit dem NIH vorgesehen war in Form eines weiteren Arms mit früher Kombination. „Das wäre eine dreimal so große Studie gewesen, aus Sicht des Instituts unbezahlbar zu der Zeit“, erläuterte er. Für Nathan ist auch das ein Ergebnis von GRADE: der unausweichlich scheinende HbA1c-Anstieg lässt sich auf die untersuchte Art nicht verhindern.
|
|
Erschienen in: Diabetes-Congress-Report, 2021; 21 (6) Seite 6-12