Passen unsere Methodender Patientenschulung noch zu den Betroffenen und ihren Wünschen und Bedürfnissen? – Dr. Veronika Strittmatter-Haubold zeigt die Sicht der Pädagogik.

Letztlich beantworten können diese Frage nur die Betroffenen selbst und dabei sogar nur der einzelne Patient oder die Patientin. Bislang liegen hierzu keine fundierten Daten vor, dennoch gibt es eine Tendenz, die Effizienz der Diabetes-Patientenschulungen mit ihren vielzähligen Programmen zu-nehmend infrage zu stellen. Die inhaltsreichen Curricula, die heterogene Patientenschaft und das Lernverständnis gelten mittlerweile in den einschlägigen Fachgesellschaften als Ansatzpunkte, um die Schulungssituationen zu hinterfragen.

Verantwortliche Beteiligte orientieren sich damit an dem in der Bildungslandschaft seit guten 15 Jahren intensiv geführten Diskurs über Lernen und Bildung. Anlässe, die von außen die pädagogische Welt erschütterten, waren z. B. die Pisa-Studie, die zunehmende Globalisierung und auch die sensible Wahrnehmung unserer Gesellschaft als diverse. Die Pädagogik selbst wurde bereits länger mit Befunden der Hirnforschung und Biowissenschaften konfrontiert, die das Verständnis von Lernen veränderte.

Hinzu kamen philosophische Grundhaltungen der Systemtheorie und des Konstruktivismus, die eine Neugestaltung von Lehr-Lern-Prozessen mehr als nahelegten.

Selbstmanagement

Ein schöner Begriff aus den 1990er Jahren. Er wird heute besonders in der Erwachsenenbildung nicht mehr ausschließlich als situationsadäquat bzw. hilfreich für lernende Erwachsene betrachtet. Der eher neue Schlüsselbegriff für Lernprozesse lautet Kompetenzen, die es zu erwerben und beständig zu erweitern gilt. From Teaching to Learning lautet nun die Forderung für das Gestalten von Lernsituationen. Lernergebnisse, auch Learning Outcomes genannt, stehen im Vordergrund, anstatt wie bislang primär die zu vermittelnden Inhalte.

Mit der Einführung des Kompetenz-Begriffs steht nicht nur Wissen im Vordergrund. Vielmehr geht es bei einem Lernenden um die verfügbaren oder erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme lösen zu können und auch um die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (vgl. Weinert, 2001, S. 27f.). Die erste Antwort auf die Leitfrage hier findet sich in der personalen oder Selbst-Kompetenz, statt NUR nach Selbstmanagement zu streben.

Neues Verständnis von Lernen

Lernen gilt als höchst unwahrscheinlich, besonders formales Lernen. Folgt man neueren Erkennt-nissen der Lehr-Lern-Forschung, dann sind Lernprozesse als Konstruktionsprozesse aufzufassen, in denen jeder Lernende sich seine individuelle Wissenswelt selbst konstruiert. Insofern nützen Settings, in denen der Schwerpunkt hauptsächlich auf Vermittlung und Instruktion liegt, eher wenig.

Die Pädagogik fordert daher schon länger einen Lernkulturwandel, der Lernen ermöglicht, in dem selbst gelernt werden kann. Die Lehr-Lern-Arrangements sollen Zugänge und Gelegenheiten für je individuelle Chancen bieten, wobei sie sich an den Zielgruppen in Schule, Hochschule, Ausbildung und Erwachsenenbildung orientieren.

Erwachsene lernen mit einem hohen Maß selbstbestimmt, sie wollen selbst entscheiden, was, wann und wie sie lernen. Die Lernerfahrungen, die einzelnen Lebenszuschnitte, die individuellen Verhaltensmuster und Routinen bilden die Bedingungen für erfolgreiches Lernen. Gleichermaßen können sie hohe Hürden für Veränderung bergen. Erwachsene benötigen zusammengefasst sowohl Wissensinput, als auch Beratung und Begleitung in ihren Lernbemühungen – und, sie benötigen Wahlmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen.

Die zweite Antwort lautet: Lernen ermöglichen, statt nur Wissen vermitteln.

Heterogene Lerngruppen

Gestärkt werden müssen neben der (medizinischen) Fachsystematik vernetztes und mehrperspekti-visches Denken und ein übergreifender Sinnzusammenhang. Eine homogen organisierte Schulung erfüllt diese Ansprüche nicht mehr. Sie weicht zunehmend differenzierten Lernangeboten, zugunsten individueller Lernvoraussetzungen, Bedürfnissen und Zielen.

Individualisiertes und zieldifferentes Lehren sind aktuelle Antworten der Pädagogik im Versuch, didaktisch-methodisch sinnvoll heterogene Lerngruppen optimal zu fördern. Die neue Lernkultur beteiligt die Lernindividuen an den Inhalten und bezieht sie als Mitverantwortliche ein. Durch diese Teilhabe wird die Motivation der Lernenden für die eigene Kompetenzerweiterung gefördert. Sie sind für das eigene Lernergebnis verantwortlich, während sich damit auch die Rolle der Lehrenden wandelt, hin zu Lernberatern, die passende Umgebungen gestalten und in anderer Qualität die Lernenden begleiten. Denn jeder Patient und jede Patientin benötigt ein anderes Angebot.

Multiple Lernarchitekturen, statt Schulungsprogramme empfiehlt die dritte Antwort.

Individualisieren

Die didaktische Erwiderung auf Heterogenität in Lerngruppen orientiert sich an der Individualisierung. Lehrende und Lernende erhalten mit der Individualisierung größere Freiräume und mehr Verantwortung. Für konstruktive, gelingende Lernprozesse und eine lebendige Interaktion wächst auch die Verbindlichkeit. Gerade dann, wenn ein nächster, noch grundlegenderer Perspektivenwechsel erfolgt: die Auflösung der Lerngruppe.

Das geschieht im personalisierten Lernen. Zwar knüpft es an Bewährtem an, kombiniert es allerdings neu und geht dabei auf eine bewusstere Art und Weise mit dem Lernindividuum um. Individuelle Profile werden hier erfasst und passende Lern- oder Fördermöglichkeiten entwickelt. Jeder Patient geht seinen eigenen Weg und in eigener Geschwindigkeit. Personalisierte Lehr-Lern-Prozesse optimieren die Individualität und Einzigartigkeit von Menschen und fördern deren Potenziale zutage.

Daraus ergibt sich als vierte Antwort: Lernbegleiter, statt Wissensvermittler.

Lernsysteme mit individuellen Wahlmöglichkeiten bieten flexible Lerngelegenheiten an, im Sinne von wann, wo, was, wie, wie lange und mit wem sich Lernende etwas aneignen. Die Vorteile für die vielfältige Patientenschaft liegen auf der Hand, denn Länge, Dauer, Häufigkeit, eigenes Tempo, Wiederholungen, Ort, Zeit, Anlass, alleine, in Gruppen mit Gleichgesinnten (Peers) und mit gleiche Voraussetzungen werden vom Lernenden selbst bestimmt.

Während Angebote in Form von gefügten Programmen eher wenig Spielraum lassen. Zwar werden unterschiedliche Settings wie Work-shops, Beratungsgespräche oder Vorträge arbeitsmethodisch und mit Materialien ausgestattet, doch überwiegt die Inhaltsdichte und geht so an den meisten Patienten und ihren Bedürfnissen vorbei.

Flexible, individualisierte Lernangebote setzen auf die Selbstlernkompetenz der Lernenden und begleiten sie in ihren selbstorganisierten Bemühungen. So bieten innovative Formate beispielsweise Peer Groups, Coaching, Super- und Intervision, Telefonate, SMS, One Stopp Support, Erfahrungs-austausch, Spiele und mentales Training an.

Für die Anwendung in der reformierten Patientenschulung empfehlen sich besonders auch digitale Elemente wie Lernvideos, Lernsoftware, Computerspiele, Webinare und auch Apps. Durch ihr technisches Potenzial ermöglichen sie in hohem Maße individualisierte und personalisierte Lernzugänge und -räume.


Literatur:
Dumont, Hanna; Istance, David & Benavides, Francisco (Eds.) (2010). The Nature of Learning. Using Research to Inspire Practice. Paris: OECD.
Franz E. Weinert, Franz E. (Hrsg.) (2001). Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz.
Schwerpunkt: Schulung


Autorin: Dr. phil. Veronika Strittmatter-Haubold

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2017; 29 (4) Seite 14-15