Unter Experten heißt es, dass alles digitalisiert werden wird, was digitalisiert werden kann. Dazu gehört selbstverständlich auch das Gesundheitswesen. Aber woran liegt es, dass ausgerechnet dieser Bereich etwas rückständig daherkommt in Sachen Digitalisierung? Professor Arno Elmer hat Antworten parat.

In fast allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen sind digitale Lösungen und Prozesse heute bereits angekommen. Nicht so im deutschen Gesundheitswesen. Wir diskutieren bereits über Themen wie Big Data, Kognitive Intelligenz, Machine- und Deep-Learning, invasive Nanosensoren und haben noch nicht einmal das elektronische Rezept. Woran liegt das?

Es ist sicher nicht die Technik oder die Medizin, denn sowohl Informationstechnologie (IT) als auch Gesundheit sind keine nationalen Fragestellungen. Es wird hier international geforscht und entwickelt, Lösungen und Verfahren werden eingesetzt. Evidenz für den signifikanten, positiven Nutzen von eHealth- und mHealth-Lösungen, von Telemedizin und -konsilen, von datengestützter Versorgungsforschung, Krebsregistern usw. ist längst vorhanden – in anderen Ländern flächendeckend in der Versorgung implementiert und das schon seit vielen Jahren.

Dies hat nun wohl auch die deutsche Politik verstanden und 2016 ein eHealth-Gesetz auf den Weg gebracht. Kern dieses Gesetzes ist allerdings eine Technik, deren Spezifikation, Anwendungsszenarien und -prozesse größtenteils älter als 15 Jahre sind. Wir erinnern uns: Damals gab es noch nicht einmal das Smartphone. Die Datenmengen haben sich seitdem vermillionenfacht! Sprach man damals noch in Speichergrößen wie Kilo- und Megabyte, so sind wir heute nach Gigabyte bereits im Tera- und Zetabyte-Bereich angekommen.

Fortschritt wartet nicht und fragt nicht

Der technische Fortschritt der Digitalisierung ist wahnsinnig schnell, wartet nicht und fragt nicht. Technische Sensoren und Instrumente, Soft- und Hardware-Lösungen, Speichersysteme und Datenbanken und vor allem Kommunikationsplattformen und –netze wurden dabei nicht für einzelne Länder entwickelt und dort eingeführt. Und natürlich nicht in einer einzelnen Branche in einem bestimmten Land, also definitiv nicht speziell für das deutsche Gesundheitswesen.

Manche wünschen sich, dass deutsche Gesundheitsdaten in deutschen Servern auf deutschem Boden gespeichert und verarbeitet werden. Aber dies entspricht eben schon seit langem nicht mehr den tatsächlichen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen einer vernetzten Welt, der täglichen Realität. WWW steht für World Wide Web, und das Internet ist eine Plattform, die von fast allen Deutschen völlig selbstverständlich täglich genutzt wird – privat und im Beruf, in Deutschland und im Ausland.

Die vorhandenen Kommunikationsnetze unterscheiden schon lange nicht mehr in Telefonie und Datentransfer und das meiste davon erfolgt bereits mobil.

Digitalisierung hierzulande nur im 2. Gesundheitsmarkt

Wir nutzen digitale Möglichkeiten völlig selbstverständlich, freiwillig und gerne, weil sich ein Nutzen für uns ergibt: sofort, unmittelbar und persönlich. Fotos und Nachrichten versenden mit WhatsApp, in Google eine bestimmte Information in Sekunden finden und herunterladen, der Navigator ersetzt jede Landkarte, Übersetzungsprogramme helfen im Ausland, eBanking- und eShopping-Anwendungen ersparen uns Zeit und Wege.

Es gibt auch für den Gesundheitsbereich schon digitale Lösungen, z.B. Telekonsultationen mit einem Kardiologen 24/7 durchzuführen (CardioGo), mit einem normalen Smartphone Vorhofflimmern zu erkennen (Preventicus) oder sich eine qualifizierte Zweitmeinung eines Fachspezialisten einzuholen (medexo). Digitalisierung hilft im Gesundheitswesen bei Diagnose, Behandlung, Nachsorge und Prävention und vor allem dem Patienten. Leider fast ausschließlich im zweiten Gesundheitsmarkt und nicht in der GKV-Regelversorgung.

Datenhoheit beim Patienten

Es geht nicht darum, mit einer rosaroten Digitalisierungsbrille sofort, unreflektiert und unkontrolliert alles was möglich ist, sofort in das Gesundheitssystem zu übernehmen und zu nutzen. An dieser Stelle ist Digitalisierung nicht schwarz/weiß, nicht Strom an/aus, also nicht wirklich digital sondern vielmehr "bunt" zu betrachten. Es kommt darauf an, und zwar vor allem, was der Patient wünscht. Dieser hat, auch wenn dies der ein oder andere im Gesundheitswesen, der noch gut vom Geschäftsmodell des Informationsmonopolisten lebt nicht hören will, die uneingeschränkten Eigentumsrechte an seinen Daten.

Und das informationelle Selbstbestimmungsrecht besagt, dass er nicht nur Eigentümer ist, sondern in der Lage sein muss, in den Besitz seiner Daten zu kommen. Er braucht Zugriff darauf, hat das Recht alle Informationen die von und über ihn vorhanden sind einzusehen, andere dazu zu autorisieren und vor allem diese zu löschen. Dies ist übrigens auch in der EU-Datenschutzgrundverordnung, die bis Mai 2018 von allen EU-Staaten in nationales Recht umzusetzen ist, so vorgesehen. Eine Verordnung, die nicht nur für ein Land und einen Sektor gilt, sondern wie Digitalisierung überhaupt, alle Rechts- und Lebenswelten umfasst.

Internationale technische Standards existieren bereits

Was aber sind die Hindernisse und Gründe, dass Deutschland gerade im internationalen Vergleich, bei der Nutzung von längst vorhandenen und mit nachgewiesenem positivem Nutzen verbundenen digitalen Lösungen so weit hinten liegt? Einige seien hier exemplarisch genannt, tatsächlich gibt es noch viel mehr:

  • Föderales, stark fragmentiertes Gesundheits- und Selbstverwaltungssystem mit unterschiedlichsten Interessengruppen und Gesundheitssektoren
  • Fehlender Handlungs- und Leidensdruck, da viele Entscheidungsträger mit den existierenden "analogen" Geschäftsmodellen sehr gut leben. Eine Umverteilung oder Neuordnung ist mit massiven Risiken verbunden
  • Offene Finanzierungsfragen, fehlende, vor allem sektorenübergreifende Vergütungsmodelle und damit verbunden fehlende Investitionsanreize für innovative Lösungen und Prozesse
  • Negative Presse insbesondere zum Thema Datenschutz und -sicherheit, zu wenig bzw. falsche Informationen und folglich fehlende Akzeptanz bei vielen Menschen
  • Mangelnde Patientensouveränität durch fehlende Informationen sowie unterschiedliche und heterogene Patienten- und Versicherteninteressen

Angebliche technische und juristische Hürden, wie fehlende Interoperabilität und Schnittstellen, tatsächlich nicht zu gewährleistender Datenschutz und -sicherheit wurden bewusst nicht genannt. Es gibt bereits erprobte, internationale technische Standards und wenn Patienten, Versicherte und Leistungserbringer einwilligen, gemeinsam digital unterstützt zu arbeiten, dann ist dies möglich; bereits heute in Gesundheitssystemen überall auf der Welt und auch in Deutschland, und zwar rechtskonform nach dem Bundesdatenschutzgesetz.

Mutig (nicht leichtsinnig) auf den Weg machen

Was müsste also passieren, damit die Chancen endlich genutzt werden und nicht noch mehr wertvolle Zeit für die bessere Versorgung von Patienten und für das Gesundheitswesen insgesamt verloren wird? Aufgrund der Komplexität der Herausforderungen und deren Multidimensionalität – Digitalisierung tangiert Medizin, Pflege, Ethik, Ökonomie, Soziologie, Technik usw. – kann es nicht EINE Lösung geben. Folgend werden einige Handlungsempfehlungen gegeben, um die Entwicklung deutlich zu beschleunigen:

  • Notwendige und wichtige Entscheidungen sollten nicht der "Standespolitik" überlassen werden; Involvierung von Experten und "willigen" Personen und Institutionen, um das Thema vorwärts zu treiben
  • Fokus auf Versorgung und nicht auf Forschung sowie Schaffung von Vergütungsmöglichkeiten für sektorenübergreifende, digitale Lösungen und Prozesse
  • Stärkere Berücksichtigung der Interessen und Rechte der Patienten und Versicherten sowie ihrer Partizipation durch digitale Lösungen; Entwicklung einer nicht nur patientenzentrierten sondern vielmehr auch patientengesteuerten Versorgung
  • Schaffung adäquater, finanzieller Möglichkeiten für Projekte- sowie dauerhafter Vergütungsmodelle und stärkerer Einbeziehung und Kompetenzübertragung auf die direkt an der Versorgung beteiligten Leistungserbringer sowie der gesetzlichen Krankenversicherungen
  • Entwicklung geeigneter, "schneller" Verfahren zur Bewertung digitaler Anwendungen
  • Positive, nutzenorientierte Kommunikation der verantwortlichen Organisationen zum Thema für alle Bürger unter Einbeziehung international vorhandener Lösungen

Gesundheitsminister Gröhe hat vor kurzem in diesem Kontext gesagt: "Veränderung braucht Mut!" Nun, dann sollten wir uns mutig (nicht leichtsinnig) schnell auf den Weg machen, die Chancen der Digitalisierung für das deutsche Gesundheitswesen zu nutzen: Gemeinsam mit Patienten, Ärzten, Pflegern, GKV- und PKV-Krankenkassen, Ministerien und Politik und allen, die das auch wollen und wünschen. Die Technik ist längst da, und es braucht ganz sicher nicht lange, dass aus Wunsch Wirklichkeit wird.

Um mit Konrad Zuse, einem der wichtigsten Digitalisierungspioniere zu sprechen: Praktische Anwendung finden nicht die richtigsten, sondern die einfachsten Theorien.



Autor: Prof. Dr. Arno Elmer
FOM Hochschule für Ökonomie und Management Berlin,
Geschäftsführer Innovation Health Partners GmbH (ICP)
Unter den Linden 80, 10117 Berlin

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2017; 29 (7/8) Seite 10-13