Dr. Dr. Hans-Jürgen Bickmann ist Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Außerdem ist er Telematikbeauftragter. Katrin Hertrampf hat ihn interviewt und wollte wissen, was die Ärzteschaft bewegt.

Diabetes-Forum (DF): Seit das eHealth-Gesetz zur Beschleunigung der digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen in Kraft ist, hat das Thema Digitalisierung an Dynamik gewonnen. Viele Lebensbereiche sind längst erfasst. Die Geschwindigkeit ist immens. Unser Gesundheitswesen hinkt der Entwicklung hinterher. Woran liegt das?

Dr. Dr. Hans-Jürgen Bickman: Deutsche Gründlichkeit verlangt es, die Digitalisierung des Gesundheitswesens als eine Volldigitalisierung in allen Anwendungsbereichen in einer großen Aktion durchzuführen. 70 Mio. gesetzlich Versicherte, 208 000 Haus-, Fach- und Zahnärzte, 2.000 Krankenhäuser und 21.000 Apotheker interoperabel zu verbinden, wäre selbst dann kaum schneller zu bewältigen, wenn es nicht die Fundamentalkritiker mit hoher populistischer Akzeptanz gäbe.

Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass das Gesundheitswesen ein System und kein Netz im engeren Sinn ist. In Systemen haben alle Komponenten eine definierte Funktion und sind hierarchisch aufgestellt. Netzteilnehmer sind alle auf Augenhöhe gleichberechtigt: Sie führt nur der Wille zur Assoziation zusammen. Das haben wir in der Vergangenheit gesehen, als sich bspw. die Praxisnetze nach dem Willen des Gesetzgebers als System organisieren sollten. Dann müssen Zuständigkeiten und Rechtsverhältnisse definiert werden. Das dauert bekanntlich länger. Hier hat der Gesetzgeber durch Setzung von Fristen und Sanktionen als Beschleuniger gewirkt.

DF: Mit Blick auf die elektronische Gesundheitskarte (eGK), die seit Jahren eingeführt werden soll, steht der Vorwurf im Raum, die ärztliche Selbstverwaltung sei mit Digitalisierung überfordert. Dabei hat es durchaus Stellungnahmen von Bundesärztekammer (BÄK) und Landesärztekammern gegeben, wie mit dem Thema eHealth umzugehen ist. Eigene Ausschüsse beschäftigen sich schon sehr lange mit Telemedizin, Telematik und mobile Health (mHealth). Welches sind derzeit die dringlichsten Fragen?

Bickman: Wir müssen zwischen Verwaltungsaufgaben und telemedizinischen Projekten unterscheiden. Die Verwaltung von Daten soll nicht mehr, sondern weniger Bürokratie in Praxen und Krankenhäusern schaffen. Wie können Anwendungen so nutzerfreundlich gemacht werden, dass sie die analoge Welt ablösen können? Als Beispiel: Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann digital erstellt werden, muss aber ausgedruckt dem Arbeitgeber vorgelegt werden. Bei Teildigitalisierungen sind digital-analoge Schnittstellen notwendig, die den Arbeitsaufwand erhöhen.

Wann kommt die flächendeckende Einführung vom elektronischen Heilberufsausweis (eHBA), der dem eIDAS (Signaturverordnung)-Standard entspricht? Der eHBA ist notwendig zur Unterzeichnung digitaler Dokumente wie Briefe und Befunde.

Die größten Herausforderungen, aber auch Chancen ergeben sich im Bereich der Telemedizin. Es gibt zahlreiche Anwendungen, doch sind die meisten von ihnen auf dem zweiten Gesundheitsmarkt zu finden. In der regulären Versorgung haben wir etliche proprietäre Lösungen. Hier muss die Frage nach der Interoperabilität zwischen den Anwendungen gestellt werden. Das im E-Health-Gesetz geforderte Interoperabilitätsverzeichnis muss dahingehend erweitert werden.

Schließlich steht auch die angemessene Honorierung telemedizinischer Leistungen aus. Außer in IV (Integrierten Versorgungs)-Verträgen existieren keine Angebote mit kostendeckender Finanzierung. Ich denke dabei an die Videosprechstunde: Mit den Honoraren lässt sich die Einrichtung der technischen Voraussetzungen noch nicht kostendeckend finanzieren.

DF: Beim 120. Deutschen Ärztetag im Mai in Freiburg wurde der Auftrag an die BÄK formuliert, die Musterberufsordnung (MBO-Ä) zu ändern und die Beschränkungen für Telemedizin zu lockern. Damit sollen die Möglichkeiten der Fernbehandlung erweitert werden. Noch ist es so, dass die telemedizinische Betreuung daran gekoppelt ist, dass der Arzt den Patienten persönlich kennt. Was steckt hinter dieser Forderung? Womit kann künftig gerechnet werden?

Bickman: Die Bundesärztekammer hat 2015 eine Arbeitsgemeinschaft Telemedizin mit dem Arbeitsauftrag installiert, die Möglichkeiten telemedizinischer Versorgung mit der Berufsordnung abzustimmen. Telemedizinische Betreuung, bei der sich immer auch ein Arzt mit dem Patienten an einem Ort befindet, ist unproblematisch. Kritisch ist die ausschließliche telemedizinische Konsultation zwischen Arzt und Patient.

Unter sogenannten "Entlastenden Rahmenbedingungen" ist – so das Ergebnis der Beratungen – eine Fernbehandlung dann berufsrechtlich erlaubt, wenn sonst gar keine Behandlung möglich wäre, wie beispielsweise in der maritimen funkärztlichen Versorgung oder im notdienstlichen Primärkontakt. Darüber hinaus bestehen keine grundsätzlichen Einwände gegen eine allgemeine krankheitsbezogene Fernberatung. Verboten ist die Telekonsultation hingegen dann, wenn eine individuelle Beratung mit Indikationsstellung zur Einleitung diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen ansteht.

Der Deutsche Ärztetag hat sich 2017 in Freiburg nicht für eine Substituierung der Präsenzmedizin durch Telemedizin ausgesprochen. Die Delegierten waren sich einig, dass bei der Versorgung in der Fläche und in Notfällen der telemedizinische Einsatz erlaubt sein muss. Schon jetzt läuft in Baden-Württemberg nach Beschluss der Landesärztekammer ein telemedizinisches Pilotprojekt, das seitens der Kammer genehmigt wurde. Eine Ausweitung soll nach eingehender Evaluation erwogen werden.

DF: Die Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) und die Ärztekammer Nordrhein (ÄKNO) sind Partner von TELnet@NRW – einem sektorenübergreifenden Netzwerk zur Verbesserung der intensivmedizinischen Versorgung. Zahlreiche Kliniken, Ärztenetze, gesetzliche Krankenkassen, Universitäten und die Krankenhausgesellschaft sind mit im Boot. Das Netzwerk basiert auf dem Konzept "Telematik in der Intensivmedizin" (TIM) unter Federführung des Universitätsklinikums Aachen. Hier konnte der Nutzen gezeigt werden. Wie ist die Zusammenarbeit der Partner organisiert? Ist TELnet@NRW eine Insellösung im Verbund oder ein Versorgungsmodell der Zukunft?

Bickman: Das Aachener Projekt "Telematik in der Intensivmedizin" ist ein auf einer Videosprechstunden-Systematik beruhendes Telekonsil-Modell. Ziel ist es, die intensivmedizinische Expertise des Universitätsklinikums Aachen solchen Einheiten zukommen zu lassen, die sich von der Größe und vom Organisationsgrad her keine "High-end-Intensive-Care" leisten können und von der Schließung bedroht sind.

TIM leistet insofern einen Beitrag zur wohnortnahen Maximalversorgung. Es ist damit eine Blaupause für die Medizin der Zukunft. Statt ambulante und stationäre Versorgungseinheiten entweder mit allen Funktionalitäten auf maximalem Niveau auszustatten oder sie zu schließen, ist ein Szenario mit überregional angesiedelten Experten denkbar, die anderen Versorgern ihre Kompetenz zukommen lassen. Ziel ist eine virtuelle Versorgungseinheit, deren Expertisen auf mehrere Standorte verteilt sind.

Die Folge ist, dass es keine Einheiten mehr geben muss, die als Maximalversorger im herkömmlichen Sinne alle Experten auf einen Raum konzentrieren müssen, sondern dass alle Einheiten voneinander abhängig werden. Die Herausforderung liegt in der digitalen Vernetzung, die nicht nur alphanumerisch, sondern auch audiovisuell besteht.

DF: Beim Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft Ende Mai in Hamburg war zu hören, dass Digitalisierung in der Diabetologie angekommen ist. Sie sind neben Ihren Funktionen in den Gremien der ÄKWL Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit Praxisklinik in Siegen. Wie ist der Stand der Digitalisierung in der Gynäkologie? Gibt es Projekte im eHealth-Bereich, die erwähnt werden sollten?

Bickman: Telekonfererenzen, in denen Fallbesprechungen mit Radiologen, Pathologen, Onkologen und Chirurgen virtuell zusammengeführt werden, verkürzen und optimieren Entscheidungsfindungen. Sie existieren bereits. Die Erhöhung des Organisationsgrades verbessert auch die rechtliche Grundlage, weil damit die digitale Protokollierung einhergeht.

Daneben stecken die telemedizinischen Ansätze noch in den Kinderschuhen. Die Überwachung Schwangerer kurz vor dem errechneten Termin lässt sich durch ein Tele-CTG vereinfachen. Klinikintern gibt es diese Einheiten schon seit drei Jahrzehnten, aber erst jetzt ist es möglich, durch digitale Auswertung Frühsignale kritischer Situationen automatisch und damit sicherer zu erfassen. Auch ließe sich die periodische Vitalwertkontrolle während der Schwangerschaft von zu Hause aus vereinfachen.

Wirklich Zukunftsmusik ist die perkutane Hormonüberwachung im Rahmen der Therapie des Klimakteriums. Hier könnte durch Langzeitmonitoring eine nicht immer rational geführte Diskussion über die adäquate Antwort auf den Hormonmangel in der Perimenopause endlich durch harte Fakten untermauert werden.

DF: Herr Bickmann, ich bedanke mich recht herzlich für das Gespräch!

eLearning und Blended Learning als zukunftsweisende Lernmethoden

Die Akademie für medizinische Fortbildung der ÄKWL und KVWL bietet onlinegestützte Kurse mit eigener Lernplattform (ILIAS) an (www.aekwl.de/elearning). 4.200 Teilnehmer jährlich nutzen das Angebot. Es umfasst aktuell 54 verschiedene Konzepte. Der Blended-Learning-Kurs "Ärztliche Wundtherapie" beispielsweise besteht aus 29 Präsenz- und 25 eLearning-Einheiten mit anschließender Prüfung. Verantwortlich: Elisabeth Borg (Ressort-leiterin), Christoph Ellers B.A. (Stv. Ressortleiter)

Was ist Blended Learning?
Blended Learning bezeichnet eine Lernform, die eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstaltungen und modernen Formen von eLearning anstrebt.

Das Konzept verbindet die Effektivität und Flexibilität von elektronischen Lernformen mit den sozialen Aspekten der Face-to-Face-Kommunikation […]. Bei dieser Lernform werden verschiedene Lernmethoden, Medien sowie lerntheoretische Ausrichtungen miteinander kombiniert.

Vorteile von eLearning in der medizinischen Fort- und Weiterbildung
  • Zeitersparnis (Fahrzeiten zum/vom Kursort entfallen)
  • Einsparungen bei den Fahrtkosten
  • flexible Bearbeitung der Lerninhalte
  • schnelle und einfache Zugriffsmöglichkeiten auf ergänzende Lerninhalte per Hyperlink
Ziel: Bessere Vereinbarung von beruflicher Fort- und Weiterbildung, Familie und Freizeit durch moderne Lernformen!

Qualitätskriterien eLearning der Bundesärztekammer Relevante Aspekte für die Konzeption und Bewertung von eLearning-Angeboten sind
  • das Betreuungskonzept
  • die didaktische Umsetzung
  • die Erfüllung der relevanten mediendidaktischen und medientechnischen Aspekte
  • die Qualitätssicherung


die Fragen hat Katrin Hertrampf gestellt
Redaktion Diabetes-Forum, Kirchheim-Verlag
Kaiserstraße 41, 55116 Mainz
Tel.: 06131/96070-0, Fax: 06131/9607090

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2017; 29 (7/8) Seite 18-21